EU-Projekt VULNER – Kick-Off-Workshop
Am 19. und 20. Februar 2020 fand am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung (MPI) der Kick-Off-Workshop für das EU-Forschungsprojekt VULNER statt. Die Diskussionen während des Workshops drehten sich in erster Linie um die Methoden und Konzepte, die für die Umsetzungsphase des Projekts von Bedeutung sind.
Nach einer Einführung von Marie-Claire Foblets (MPI) stellte Luc Leboeuf, der wissenschaftliche Koordinator von VULNER, den theoretischen und methodischen Rahmen des Projekts vor. Dieser Rahmen diente in den folgenden Diskussionen als Bezugspunkt für die Referenten, um sich über praktische und theoretische Erkenntnisse aus ihren vorangegangenen Forschungsprojekten auszutauschen.
Forschungserfahrungen teilen
Das erste Panel unter dem Vorsitz von Delphine Nakache (Universität Ottawa) befasste sich mit Forschungsmethoden und wissenschaftlichen Herangehensweisen, die es ermöglichen, die Umsetzung des Migrations- und Asylrechts aus einer empirischen Perspektive zu dokumentieren und zu analysieren. In diesem ersten Panel stellten Ellen Desmet (Universität Gent), Dagmar Soennecken (Universität York) und Larissa Vetters (MPI) ihre Forschungsergebnisse vor. Sie sprachen über ihre Beobachtungen bei der Umsetzung des Migrationsrechts durch Verwaltungs- und Asylgerichte in Belgien und Deutschland. Dabei stützten sie sich auf quantitative Analysen der Rechtsprechung und Interviews mit Richtern, Anwälten, Migranten und anderen relevanten Akteuren sowie auf Beobachtungen bei Gerichten. In Catharina Ziebritzkis Vortrag (Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht) ging es dann darum, wie die rechtswissenschaftliche Forschung zum Migrationsrecht durch Erkenntnisse beeinflusst wird, die aus der Rechtspraxis stammen. Sie zeigte, dass praktische Erfahrungen zwar nicht so systematisch sind wie empirische Forschungsmethoden, dass sie aber dennoch als Grundlage für einen fruchtbaren Dialog zwischen Rechtswissenschaftlern und anderen Sozialwissenschaftlern dienen können.
Im zweiten Panel unter dem Vorsitz von Marie-Claire Foblets ging es um die Herausforderungen, die mit ethnografischer Feldforschung bei schutzbedürftigen Migranten unter anderem mit dem Zugang zu Daten, mit der eigenen Rolle als Forscher sowie mit ethischen Fragen verbunden sind. Hilde Liden (Institute for Social Research, Oslo) berichtete über ihre Erfahrungen im Umgang mit schwierigen ethischen Fragen, die mit der Feldforschung bei unbegleiteten Minderjährigen in Norwegen verbunden sind. Sophie Nakueira (MPI) sprach darüber, wie ihre Position als ugandische Wissenschaftlerin, die bei einer westlichen Forschungseinrichtung beschäftigt ist, ihre Interaktionen mit den Menschen beeinflusste, über die sie im Flüchtlingslager Nakivale in Uganda forschte. Chaden Daif (Centre for Lebanese Studies) nahm eine andere Perspektive ein und beleuchtete die Machtdynamik, die die Forschungszusammenarbeit zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden beeinflusst. Sie plädierte für gleichberechtigte Forschungspraktiken, bei denen die Forscher aus dem Süden nicht nur zum Datensammeln eingesetzt, sondern auch in den Prozess der Datenanalyse einbezogen werden.
Das Konzept der „Schutzbedürftigkeit“ aus theoretischer, rechtlicher und empirischer Perspektive
Das Panel unter dem Vorsitz von Zeynep Yanasmayan (MPI) befasste sich mit den theoretischen Wurzeln des Konzeptes der „Schutzbedürftigkeit“ im Kontext von Geschlechtertheorien. Alice Margaria und Stefano Osella (beide MPI) verdeutlichten, wie der Begriff in feministischen und queeren Theorien konzeptualisiert wird und zeigten, dass „Schutzbedürftigkeit“ nicht ausschließlich auf individuelle Merkmale abzielt, sondern auch dazu dienen kann, das Augenmerk auf umfassendere Machtdynamiken zu lenken. Anschließend sprachen Denise Venturi (Katholische Universität Löwen) und Dany Carnassale (Universität Ca'Foscari, Venedig) über die wichtigsten Ergebnisse ihrer Forschungen zu Asylanträgen, bei denen die sexuellen Orientierung und die Geschlechtsidentität (SOGI) eine zentrale Rolle spielten, die Venturi aus juristischer Perspektive und Carnassale auf der Grundlage empirischer Studien mit dem Schwerpunkt in Italien durchgeführt haben. Beide zeigten, wie das Konzept der „Schutzbedürftigkeit“ die Entwicklung des rechtlichen Rahmens für die Beurteilung solcher Anträge steuerte und wie dieses Konzept ein besseres Verständnis der spezifischen Erfahrungen von Asylbewerbern ermöglicht, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität verfolgt werden.
Das darauffolgende Panel unter dem Vorsitz von Mariana Monteiro de Matos (MPI) befasste sich damit, wie die Schutzbedürftigkeit von Asylsuchenden in verschiedenen Rechtsordnungen definiert und behandelt wird. Delphine Nakache, Tim Rohmann (Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik) und Joanna Pétin (ehemalige Beisitzerin am französischen Asylgericht) analysierten, wie das Konzept der Schutzbedürftigkeit im Globalen Pakt der Vereinten Nationen, der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem genutzt und definiert wurde. Jessica Schultz (Universität Bergen) konzentrierte sich dann auf die rechtlichen Kriterien, auf deren Basis Alternativen für den internen Schutz von Flüchtlingen identifiziert werden, und analysierte, wie diese Kriterien einerseits Schutz bieten, andererseits aber auch neue Schutzbedürftigkeit hervorrufen können.
Im abschließenden Panel unter dem Vorsitz von Sylvie Sarolea (Katholische Universität Löwen) erörterten die Teilnehmer, wie sich gegenseitig überlagernde soziale und rechtliche Faktoren dazu beitragen, wie Asylsuchende die vielfältigen Schutzbedürftigkeiten, mit denen sie konfrontiert sind, erleben. Francesca Raimondo (Katholische Universität Löwen) ging auf die spezifischen Herausforderungen ein, denen sich Staatenlose gegenübersehen. Midori Tijen Kaga (Universität Ottawa) sprach sich für eine humanitäre Politik aus, die auf die Schutzbedürftigkeit älterer Menschen eingeht und die ihre „Befähigung“ – im Sinne von Amartya Sen – erhöht. Schließlich sprach sich Nicolette Busuttil (Queen Mary Universität London) dafür aus, das Menschenrechtsmodell der Behinderung auf Migranten mit psychischen Bedürfnissen anzuwenden. Sie plädierte für die Beseitigung von Barrieren, die den Zugang zur Gesundheitsversorgung beeinträchtigen, anstatt einer Praxis zu folgen, die den Zugang zum Gesundheitssystem nur auf die beschränkt, die am meisten Schutz benötigten. Diese Praxis könnte den Anreiz schaffen, überhaupt erst schutzbedürftig zu werden.
Keynote-Vortrag zu Fragen der Feldforschungsstrategie und Positionalität
Jean-Pierre Olivier de Sardan (École des Hautes Études en Sciences Sociales) hielt einen Keynote-Vortrag mit dem Titel „Fieldwork Policy and Positionality Issues“. Nachdem er verschiedene Arten der Datenerhebung und Forschungsstrategien in der Anthropologie diskutiert hatte, plädierte er für einen „methodologischen Populismus“, den er als einen menschenzentrierten methodischen Ansatz definierte, der versucht, die Handlungsfähigkeit und Rationalitäten aller beteiligten Akteure, einschließlich der Schutzbedürftigsten, zu dokumentieren und zu analysieren. Der „methodologische Populismus“, so Jean-Pierre Olivier de Sardan, dürfe nicht mit dem „ideologischen Populismus“ verwechselt werden, der aus der unkritischen Übernahme der Werte und Interessen der untersuchten Gruppe resultiere und mit großer Wahrscheinlichkeit zu verzerrten Forschungsergebnissen führe.
Auf den Vortrag folgte ein Kommentar von Anthony Good (Universität Edinburgh), der den „handwerklichen Charakter“ der Datenerhebung in der Anthropologie hervorhob und darauf hinwies, dass die Forscher sich ständig an die Gegebenheiten im Feld anpassen müssten, wobei sie gleichzeitig Respekt zeigen sollten, wenn die Ansichten der Akteure, denen man begegnete, von den eigenen abwichen. Diese Kommentare deuteten an, dass das Gespräch über die Forschungsmethoden während des gesamten VULNER-Projekts fortgesetzt werden muss.