20 Kommentare zur Pandemie 2020
Während des Lockdowns und danach widmeten sich Chris Hann und Kolleg*innen in einer Reihe von Blogbeiträgen der Corona-Pandemie und ihren Folgen. Die 20 Texte, die von Mitgliedern des REALEURASIA-Projekts und Kolleg*innen aus aller Welt verfasst wurden, beleuchten aus ethnologischer Sicht aktuelle Entwicklungen in verschiedenen Ländern Eurasiens und erläutern die politischen und historischen Hintergründe.
Ende März, als fast alle europäischen Länder sich im Lockdown befanden (eine Maßnahme, die in manchen Ländern schon länger galt, in anderen erst seit Kurzem), fiel mir in der Berichterstattung des ungarischen staatlichen Fernsehens über die Coronavirus-Pandemie eine markante Tendenz auf: Nacht für Nacht widmeten sich die Berichte der Solidarität, die Ungarn aus dem Osten (überwiegend aus China, aber auch aus den turksprachigen Ländern) erhielt – nicht jedoch der Unterstützung von den europäischen Nachbarn oder von der EU im allgemeinen. Der Rückgriff auf Peking anstatt Brüssel für die dringend benötigte Schutzausrüstung und Beatmungsgeräte war natürlich unter anderem von den langjährigen Spannungen zwischen den „alten EU-Mitgliedern“ und den Visegrád-Staaten beeinflusst. Als Ausgangspunkt der Pandemie war es China ein großes Anliegen, seinen guten Ruf wiederherzustellen und seine langfristigen außenpolitischen Strategien auf dem Kontinent zu verfestigen. Kurzum, es gab reichlich Material für unser REALEURASIA-Blog, wo ich meinen ersten Beitrag über die Pandemie am 30. März postete.
Link zum REALEURASIA Blogeintrag vom 30.März 2020.
In den nachfolgenden Wochen und Monaten haben weitere Mitglieder des REALEURASIA-Projekts sowie Kolleg*innen in Halle und darüber hinaus eine ganze Reihe von Beiträgen (20 insgesamt) geschrieben, die die verschiedensten Aspekte der Coronakrise in allen Ecken des Kontinents beleuchten. Die Themen reichen von der Analyse zeitgenössischer geopolitischer Beziehungen (Frank Pieke) bis hin zur Geschichte der Medizinethnologie (Samuel Williams) und vom „schwedischen Sonderweg“ (erläutert von unserem Auswärtigen Wissenschaftlichen Mitglied, Thomas Hylland Eriksen) bis hin zu der bemerkenswerten Leistung Vietnams in der Bewältigung der hygenischen Herausforderung (Kirsten Endres). Die Stimmung war meistens eher bedrückend. Egal ob in Deutschland und Großbritannien oder in der Türkei und Indien: die Pandemie hat die kapitalistischen Verwerfungslinien und die immer größeren sozialen Ungleichheiten deutlich herausgestellt sowie Ausgrenzung und autoritären Illiberalismus verstärkt. Dass die großen Techfirmen im Westen mit massiven Gewinnen aus der Krise herauskommen, dürfte allgemein bekannt sein; das gleiche gilt aber auch für China, wie Biao Xiang (mein Nachfolger, der seine Stelle als Direktor gerade zu dem Zeitpunkt antrat, als die Krise ausbrach) in seinem Beitrag Mitte Juli erläuterte: dort werden die bisherigen Wirtschaftsordnungen durch neue Formen der Mobilität tiefgreifend verändert – mit möglicherweise weitreichenden politischen Auswirkungen.
Link zu Biao Xiangs Blogeintrag vom 17.Juli 2020.
Ziel dieser Blogreihe ist, die Relevanz der ethnographischen und theoretischen Erkenntnisse aus der Ethnologie (und ethnologie-affine Studien in der Soziologie, vertreten durch Forscher wie Roger Jeffery und Mark Harvey) für öffentliche Debatten und Diskursen über die Pandemie und den Umgang damit zu demonstrieren. Mittlerweile ist das REALEURASIA-Projekt beendet und der Abschlussbericht beim Europäischen Forschungsrat eingereicht. Der Blog jedoch wird weiterhin bestehen und bis Ende 2020 werden neue Beiträge erscheinen.