Reflexive Vermittlung für eine globale Anthropologie

Wir Anthropolog*innen schaffen kein neues Wissen: wir beschäftigen uns überwiegend damit, Sachen zu begreifen, die andere Menschen bereits in- und auswendig wissen. Unser Beitrag ist ein anderer, nämlich die Vermittlung. Wir artikulieren das Wissen anderer Menschen über das Leben in einer Art und Weise, die die Unterschiede zwischen verschiedenen Auffassungen von der Welt überbrücken. Und derer gibt es viele.
Erstens wollen wir den Austausch in der Wissensproduktion zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden ausbauen und vertiefen. Erfahrungen und Wahrnehmungen im Globalen Süden sollen nicht bloß als Material für Fallstudien dienen, sondern sind intellektuelle Ressourcen für die Analyse globaler Veränderungen. Der Globale Süden ist ein wesentlicher Motor der gegenwärtig stattfindenden weltweiten Wandlungsprozesse – und nicht lediglich ein epistemischer Standpunkt für die Entkolonialisierung des nördlichen Wissens. Über eine postkoloniale Kritik des Nordens hinausgehend wollen wir eine inklusivere und konstruktivere globale Anthropologie vorantreiben.
In diesem Zusammenhang wollen wir uns besonders für Süd-Süd-Austausch als Methode der Theoriebildung engagieren. Wenn ein Forscher aus China verblüfft über Ereignisse in Indien ist, wenn eine Forscherin aus Brasilien von einer Aktivistin aus Indonesien gebeten wird, ihre Position zu artikulieren, wenn ein somalischer Wissenschaftler die Überlegungen eines syrischen Flüchtlings nachempfindet – dann findet in diesen und ähnlichen Momenten theoretische Innovation statt. Solche Gespräche sind der Sauerstoff, den unsere Abteilung einatmet. Gastaufenthalte und Schreibstipendien für Nachwuchswissenschaftler*innen sowie eine Summer School für Doktorand*innen sind mögliche Mittel zur Realisierung dieses Zieles.
Zweitens wollen wir wissenschaftliche Erkenntnisse in den öffentlichen Diskurs einbringen. Wir halten das für keine leichte Aufgabe! Denn das Material, an dem wir Anthropolog*innen forschen, erscheint Nichtwissenschaftler*innen oft belanglos, sogar trivial („was man isst“ – Na und?), während die Fragen, die wir stellen, oft unverständlich sind („wie Subjektivität entsteht“ – Waas?!). Um diese Kluft zu überwinden, müssen sich unsere Fragestellungen vielleicht vermehrt auf Themen konzentrieren, die für Laien interessant sind, und unser Forschungsdesign soll Ergebnisse in der Form von analytischen Werkzeugen bieten, die den Menschen Einsichten in ihr eigenes Leben bieten können. Unsere Forschungssubjekte sind gleichzeitig Mitforscher*innen.
Diese Art von Vermittlung muss reflexiv sein. Der „Globale Süden“ hat viele Facetten und es gibt viele „Öffentlichkeiten“. Die Vermittlung zwischen verschiedenen Positionen ist selbst positioniert. Wir müssen stets unsere Positionalität reflektieren und unsere Methoden der Vermittlung anpassen.
In der ersten Forschungsphase der Abteilung wird dieses Ziel durch zwei Teilprojekte vertreten:
I. Gesellschaftliche Debatten in China als Erkenntnisquelle
Die Mitglieder dieses Projekts analysieren gesellschaftliche Debatten, die in China seit den 1990er Jahren in der Öffentlichkeit und nicht unter Forscher*innen und politischen Entscheidungsträgern stattfinden, und nutzen sie als Quelle von Perspektiven, die globales Denken vorantreiben. Die Debatte über Land-Stadt-Beziehungen wirft beispielsweise die Frage auf, ob die institutionelle Trennung von urbanen und ruralen Gebieten Bäuerinnen und Bauern vor Marktschwankungen schützen könnte. Dies widerspricht der konventionellen Sichtweise, wonach vereinheitlichte Märkte und undifferenzierte Staatsbürgerschaft als unbestrittene Normen gelten. Die Debatte über staatseigene Unternehmen macht auf die Politik der Eigentumsverhältnisse in einem spezifischen historischen Kontext aufmerksam: Wird die Privatisierung fairen Wettbewerb ermöglichen oder werden sich die bestehenden Ungleichheiten dadurch verfestigen? In der Form eines kommentierten Readers werden wir konkurrierende Auffassungen über zehn kritischen Fragen zusammenstellen, die eine Basis für Arbeitshypothesen mit globaler Relevanz bilden sollen.
II. Multidirektionale Problematisierung in der Sozialforschung
Kennzeichnend für die ethnologische Forschung im 21. Jahrhundert ist die Fragmentierung unserer Tätigkeitskontexte: die Entfaltung unseres Forschungsgegenstands, das Entstehen unserer theoretischen Werkzeuge, die Veröffentlichungskanäle unserer Ergebnisse und die Kommunikation mit unseren Gesprächspartner*innen sind weit verzweigt und oft voneinander getrennt. Diese Fragmentierung stellt sich besonders für Forscher*innen im Globalen Süden als kritisch dar, denn die großen Gesellschaftstheorien sind in spezifischen historischen Kontexten als Antworten auf Probleme im Globalen Norden entstanden. Die „Anwendung“ einer Theorie auf einem konkreten Fall bedeutet häufig, die Theorie aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herauszulösen, und kann dementsprechend zu einer Verzerrung des Falls führen. Multidirektonale Problematisierung hinterfragt die konventionelle Theorieangebote sowie das Verständnis des empirischen Falls. Sie stellt die öffentliche Wahrnehmung dieser und ähnlicher Themen infrage, indem Theorie und Empirie sich gegenseitig beleuchten. Auf diese Weise suchen wir neue Zusammenhänge zwischen dem Denken und den Daten, die oft in weit getrennten Welten verortet sind. In China arbeitende Sozialwissenschaftler*innen bilden den Kern dieser Projektgruppe, die ihre Einsichten aus der Anthropologie, Geschichtswissenschaften, Soziologie und Politikwissenschaften zusammenführen. Workshops, Online-Diskussionen und ein kollaboratives Schreibprojekt ermöglichen eine Bestandsaufnahme der in den letzten zwanzig Jahren gestellten Forschungsfragen in den jeweiligen Fachbereichen: Warum haben wir und unsere Kolleg*innen gerade diese und nicht andere Fragen gestellt? Hätten die Fragen besser, umfassender gestellt werden können?