Forschungsrichtung
Im Mittelpunkt unserer Forschung stehen leise Routinen ebenso wie spektakuläre Aufbrüche. Wir interessieren uns für jene eingeschliffenen Handlungsabläufe, die sich in aller Regel der Reflektion entziehen, und erforschen ihre Rolle in der Ausgestaltung sozialer Ordnungen. Erstens analysieren wir einstudierte Fähigkeiten, Gefühle von Zugehörigkeit und Verbundenheit sowie normative Orientierungen, die alltäglichen Handlungen Gestalt geben und die Möglichkeitshorizonte für Zukunftsgestaltung definieren. Routinen sind dauerhaft, aber nicht unveränderlich, denn sie werden regelmäßig von unvorhergesehenen Ereignissen, etwa hereinbrechenden Katastrophen oder technischen Neuerungen, herausgefordert. Auch schwelende Konflikte und aufflammende Spannungen provozieren Veränderungen. Die Abteilung richtet ihren Blick als zweites auf Unterbrechungen und Reformen, die dort auftreten, wo zum Beispiel historisches Unrecht angeprangert und strukturelle Gewalt beklagt wird oder wo technische Innovationen die Alltagswelt verändern. Kritik an den Verhältnissen erscheint in der Form öffentlicher Forderungen nach alternativen Ansätzen, zeigt sich aber auch – und dann ganz indirekt – in widerspenstigem Handeln, das gewohnte Routinen erodiert und alternative Lebensweisen erschafft. Welche Themen rücken – wie und wann – in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit und bieten Anlass für kollektiven Protest oder stille Subversion?
Als Kristallisationspunkte unserer Analyse dienen zwei Leitideen, die allenthalben politisches Handeln prägen und zukunftsorientierte Visionen hervorbringen: Für-Sorge und Kontrolle ( care and control). Inspiriert von einschlägigen Debatten – nicht zuletzt im Feminismus – verstehen wir unter Für-Sorge eine Form der Zuwendung und zugleich vorausschauende Anteilnahme. Das Sorgen für jemanden oder etwas zeitigt viele Schattierungen. Es manifestiert sich als Pflege von Beziehungen, als Sorge für Mensch und Tier, als Aktivität zum Klima- oder Artenschutz. In einer Haltung der Fürsorge sind Menschen offen für unerwartete Ereignisse und die Bedürfnisse von anderen Menschen, Lebewesen und Dingen; sie sind sich der komplexen gegenseitigen Abhängigkeiten bewusst und rechnen mit der letztendlichen Unplanbarkeit der Zukunft. Der Gegenbegriff zu Fürsorge ist Kontrolle. Er bezeichnet mehr als die reine Dominanz oder Unterdrückung. Gemeint sind alle Versuche, durch strukturiertes und zielgerichtetes Eingreifen Ordnung zu erzeugen. Ordnendes Handeln soll Sicherheit geben und Überleben gewährleisten. Es umfasst ein breites Spektrum von Aktivitäten, angefangen von Maßnahmen zur Grenzsicherung über die Umverteilung von Ressourcen bis zur Abwägung von Risiken und dem Versuch, eine Bevölkerung zur Selbstsorge zu erziehen. Da die Mechanismen der Kontrolle zumeist aber nur bestimmte Menschen, Lebewesen oder Dinge schützen, bringen alle ordnenden Maßnahmen immer auch Akte von Diskriminierung mit sich, die zwischen Privilegierten und Unterprivilegierten unterscheiden. Zugleich ist dem ordnenden Handeln immer auch eine Form der Disziplinierung inhärent.
Fürsorge und Kontrolle lassen sich als Gegenbegriffe verstehen und markieren dann die Differenz zwischen jenen Lebewesen und Dingen, die Sorge erfahren und anderen, die überwacht und vernachlässigt werden oder deren Tod in Kauf genommen wird. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich die beiden Orientierungen aber als komplementär, denn Entscheidungen über Kontrolle beinhalten immer auch Gedanken der Fürsorge. Im besten Falle kontrollieren Menschen, um zu schützen. Allerdings erweist sich jeder Versuch, Kontrolle auszuüben, als letztlich unvollständig und daher als ein notwendigerweise dynamischer Prozess, denn die Akteure müssen ständig auf unvorhergesehene Folgen reagieren, um ihre Ziele zu erreichen. Der Einsatz von gentechnisch verändertem Saatgut mag als ein Beispiel dienen. Er soll Ernährungssicherheit erhöhen, ist aber mit vielen Risiken verbunden. Nur wenn Menschen aufmerksam und bewusst auf Veränderungen reagieren, die sich als Folge der Einführung des neuen Saatguts einstellen, besteht die Chance, dass biologische Katastrophen verhindert werden und der gewünschte Zuwachs an Produktivität langfristig zumindest in den Bereich der Möglichkeit kommt. Ähnlich liegt der Fall bei der Einführung von biometrischer Technologie, zum Beispiel in Indien. Die digitale Verwaltung soll mehr Menschen einen verlässlichen Zugang zur Sozialhilfe ermöglichen, bringt aber neue technische Herausforderungen mit sich, die Überwachung implizieren und zugleich ausgrenzen können. Nur wenn Verwaltungen diese erkennen und auffangen, können die neuen Mechanismen die antizipierten positiven Effekte haben und im besten Fall die soziale Sicherheit erhöhen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Instabilität der Welt, die Unvorhersehbarkeit künftiger Entwicklungen und die Unzulänglichkeit unseres Wissens dazu führen, dass jeder Versuch, Ordnung zu schaffen, Planbarkeit herzustellen und Kontrolle auszuüben, eine aktive und aufmerksame Partizipation an einer vernetzten Welt erfordert. Kontrolle ist immer unvollständig und erfordert Bereitschaft zur Für-Sorge.
Die Forschung in unserer Abteilung beschäftigt sich mit Transformationen, die durch den doppelten Wunsch nach Für-Sorge und Kontrolle befördert werden. Unter diesen Perspektiven betrachten wir das Wechselspiel von Innovation und tradierten Strukturen, reflektieren emotionale Bindungen und Überzeugungen und die unscharfen Grenzen zwischen Vernunft und Glauben. Auf diese Weise öffnet sich der Blick für die ständige Transformation der Welten, die Menschen gestalten und von denen sie gestaltet werden.