Das Alumni-Interview: 10 Fragen an Anita von Poser
In loser Reihenfolge veröffentlichen wir an dieser Stelle Interviews mit Alumni des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung. Wir wollen wissen, wo sie leben und arbeiten, woran sie forschen und welche Rolle die Zeit am MPI für sie heute noch spielt. Und sie erzählen uns, welchen Rat sie ihren Studierenden mit auf den Weg geben und welches Buch sie in letzter Zeit beeindruckt hat.
1. Von wann bis wann waren Sie am MPI und was haben Sie hier gemacht?
Nach meiner Promotion an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg war ich von Januar 2010 bis September 2011 Postdoctoral Fellow des Max Planck International Research Network on Aging (kurz: MaxNetAging). Aufgrund des interdisziplinären Programms von MaxNetAging hatte ich die Gelegenheit, in dieser Zeit gleich zwei Max-Planck-Institute kennen zu lernen: das MPI für demographische Forschung in Rostock und das MPI für ethnologische Forschung hier in Halle, wo ich in der damaligen Abteilung für „Integration und Konflikt“ tätig war. Hier konnte ich mein Interesse an dem damals noch neuen und in der deutschsprachigen Ethnologie insgesamt eher vernachlässigten Schwerpunkt der Alternsforschung verfolgen und in diesem Zusammenhang zunächst meine ethnographischen Feldforschungen im südwestlichen Pazifik, genauer in Papua New Guinea, fortsetzen.
2. Wo sind Sie jetzt und was machen Sie dort?
Just across the street! Im Oktober 2022 habe ich mit großer Freude eine Professur am Seminar für Ethnologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angetreten, wo ich nun den Arbeitsbereich Mobilitätsstudien mit Fokus auf Mensch-Mensch- und Mensch-Umwelt-Verhältnissen in Forschung und Lehre leite.
3. Wie sehr hat Ihre Tätigkeit am MPI Ihre jetzige berufliche Situation geprägt?
Die Zeit am MPI war in beruflicher Hinsicht äußerst prägend für mich. Wie bereits erwähnt nutzte ich die Chance, mich vor allem in die Alternsforschung einzuarbeiten. Dieses Thema habe ich nach meiner Zeit am MPI konsequent weiterverfolgt in Forschung und Lehre an der FU Berlin, wo ich viele Jahre als wissenschaftliche Postdoc-Mitarbeiterin tätig war. Ein erstes wichtiges Drittmittelprojekt, das ich zusammen mit Kolleg:innen aus der Psychiatrie im Sonderforschungsbereich Affective Societies: Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten (SFB 1171) konzipierte, beschäftigte sich mit den affektiven Anstrengungen von Migration über den Verlauf des Lebens bis ins höhere Alter hinein. An der FU Berlin erhielt ich dann auch meine erste Professur für Psychologische Anthropologie mit dem besonderen Fokus auf Migration, Psyche und Altern. An der MLU in Halle sind viele der Themen, die ich damals am MPI setzen konnte, weiterhin zentral für meinen Arbeitsbereich.
4. Was fällt Ihnen zuerst ein, wenn Sie an die Zeit am MPI zurückdenken?
Die wissenschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten in einem exzellenten und hervorragend ausgestatteten akademischen Umfeld!
5. Haben Sie noch Kontakt zum MPI und wenn ja, welchen und zu wem?
Viele Kolleg:innen, die ich damals am MPI kennenlernte, arbeiten heute an anderen Universitäten und Forschungsinstitutionen; diese Kontakte bestehen selbstverständlich weiterhin. Umgekehrt freue ich mich, Kolleg:innen, die ich aus anderen Kontexten kenne, hier wieder zu begegnen. Über das gemeinsame Interesse an der Psychologischen Anthropologie, die ein zentraler Forschungsschwerpunkt von mir ist, kenne ich beispielsweise Julia Vorhölter, die in der Abteilung ‚Ethnologie, Politik und Governance‘ tätig ist. Am MPI verbindet mich aber auch mit Bettina Mann schon lange das gemeinsame Interesse an der Anthropology of Foodways, ein Thema, das wir durch die gemeinsame und langjährige Leitung der AG Kulinarische Ethnologie in der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie (DGSKA) sichtbarer machen konnten. Mehrere Kolleg:innen, darunter auch die MPI-Direktorin Ursula Rao, haben mein Vorhaben unterstützt, Professor Robert Desjarlais (Sarah Lawrence College, New York), einen ausgewiesenen Experten in der phänomenologischen Anthropologie, für den Humboldt-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung zu nominieren. Die Nominierung war erfolgreich und ermöglicht es mir, Professor Desjarlais in diesem und im nächsten Jahr als Gast an meinem Lehrstuhl an der MLU willkommen zu heißen. Auch in diesem Zusammenhang freue ich mich auf neue und spannende Verbindungen mit dem MPI.
6. Woran forschen Sie im Augenblick?
Gemeinsam mit meinen Teamkolleg:innen aus der Anthropologie und der Psychiatrie forsche ich gegenwärtig zum Thema „Carescapes in the Making“ in Lebens- und Arbeitswelten zwischen Berlin und Vietnam. Es geht hierbei um die Zusammenhänge von (Post-)Migration, gesellschaftlicher Diversität und Teilhabe, emotionalen Zugehörigkeiten und Fürsorgepraxen in bewegten Welten. Zu den Besonderheiten dieser interdisziplinär angelegten Forschung zählt auch der Anspruch, ethnographisch fundiertes Wissen kritisch-engagiert in multiple Öffentlichkeiten zu tragen. Unser Team konnte zum Beispiel maßgeblich den Aufbau eines Netzwerks für psychische Gesundheit im Kontext vietnamesisch-deutscher Lebenswelten voranbringen; seit einigen Jahren schon bindet dieses Netzwerk unterschiedlichste Akteur:innen regelmäßig in gemeinsame Aktivitäten zur kontinuierlichen Stärkung und Verbesserung vorhandener psychosozialer Versorgungsangebote ein. Diesen Prozess in einer Mischung aus Forschung und Engagement begleiten zu dürfen ist herausfordernd und erkenntnisreich zugleich.
7. Was planen Sie in der Zukunft?
Einerseits plane ich, mein derzeitiges Forschungsprojekt in urbanen und transnationalen Lebenswelten zwischen Vietnam und Deutschland unter neuen Fragestellungen weiter zu verfolgen. Dazu gehört etwa die Frage, wie die globalen Herausforderungen unserer Zeit bestehende Versorgungslandschaften mobilisieren, das heißt also zu deren Stärkung, Schwächung und Transformation beitragen. Andererseits möchte ich mich mit meinem Team an der MLU wieder stärker mit Mensch-Umwelt-Beziehungen aus einer land-/water-/foodscapes-Perspektive beschäftigen, die schon während meiner ersten langzeitlichen Feldforschung in Ozeanien wichtig für mich war, als ich soziale und emotionale Bedeutungsdimensionen von Nahrung, Nahrungsproduktion und kulinarischen Gewohnheiten für das gesellschaftliche Miteinander untersuchte.
8. Was kann die Ethnologie besser als andere Sozialwissenschaften?
Aufmerksam zuhören und Haltungen dezentrieren – auf dem Weg zu der Erkenntnis, wie Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsprozesse funktionieren, ist dies ein absolutes Plus ethnologischen Arbeitens.
9. Was würden Sie heutigen Studierenden der Ethnologie raten?
Unbedingt dabei zu bleiben und sich auf der Grundlage einer fundierten ethnologischen Ausbildung mutig am öffentlichen Diskurs zu beteiligen!
10. Welcher Text ? Buch oder Artikel ? hat Sie in letzter Zeit beeindruckt?
Vor kurzem las ich mit den Erstsemester-Studierenden unseres Bachelorstudiengangs Sophie Chaos Artikel „Gastrocolonialism: The Intersections of Race, Food, and Development in West Papua” (2022, The International Journal of Human Rights 26, 5). Der Text thematisiert strukturelle und rassialisierte Gewalt gegenüber indigenen Gesellschaften in West Papua, einer bis heute von indonesischem Militär besetzten Region im Pazifik. Soziale, kulturelle und politische Unterdrückung drückt sich hier unter anderem durch spezifische Rhetoriken und Praktiken von nationaler Ernährungssicherheit aus.