Der "Tag des Rentierzüchters": Repräsentation indigener Lebensstile zwischen Taigawohnplatz und Erdölstadt in Westsibirien

In den letzten 30 Jahren hat die Umgebung der chantischen Rentierzüchter in Westsibirien einen rasanten Wandel durchgemacht. Die Erdölförderung breitete sich aus, neue Städte entstanden. Etliche Familien mussten deshalb ihr Land verlassen und neue Wohnplätze suchen. Die staatlichen Betriebe, die Einkommen und Güterversorgung der Indigenen garantiert hatten, brachen zusammen. Die traditionellen Wirtschaftszweige (Fischfang, Jagd und Rentierzucht) erwiesen sich unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten als kaum rentabel und wandelten sich von Waren- zu Subsistenzproduktionszweigen. Von den meisten Sozialwissenschaftlern prophezeite Entwicklungen, wie Aussterben, Sprachverlust, Aufgabe der Rentierzucht, Umzug in die Zentralsiedlungen, sind jedoch nicht eingetreten. Stattdessen hat die Zahl der Rentierzüchter und der Rentiere zugenommen.

Der "Tag des Rentierzüchters": Repräsentation indigener Lebensstile zwischen Taigawohnplatz und Erdölstadt in Westsibirien

Chantische Rentierzüchter beharren in der Region intensivster Erschließung von Erdöllagerstätten in Westsibirien auf ihrer Differenz in Ökonomie, Siedlungsweise und Lebensstil. Schlüssel zum Verständnis dieses Beharrens sind ihre Strategien in der Interaktion mit der Außenwelt -- den Zuwanderern, der Erdölindustrie und staatlichen Institutionen. Diese Kommunikationsformen beinhalten verschiedene Formen des Verbergens, Ausweichens und des Rückzugs. Der "Tag des Rentierzüchters" ist das wichtigste öffentliche Ereignis in lokalem Kontext, in dem die Verhältnisse und Identitäten der Gruppen repräsentiert und ausgehandelt werden.

Die Lebensstile der Chanten sind von der Konstruktion zweier sozialer Räume geprägt: Wald und Stadt, die, geografisch voneinander getrennt und kulturell in vielem gegensätzlich, im Leben der Rentierzüchter aber verbunden sind. Den Praktiken der Grenzziehung zwischen Wald und Stadt dienen interne Praktiken der Distinktion als Muster.


Theoretische Ansätze

Ausgangspunkt für die Interpretation des Beharrens auf Differenz ist die Theorie des Lebensstils von Pierre Bourdieu (1994), die eine Verbindung von kultureller Distinktion mit dem Zugang zu politischen und ökonomischen Ressourcen erlaubt. Lebensstil, verstanden als Präsentation des Selbst, legte nahe, auf Ervin Goffmans (1959) theoretische Überlegungen zum "impression management" zurückzugreifen und es auf die Interaktion von Gruppen zu übertragen. Goffmans Unterscheidung von "frontstage" und "backstage" erweist sich als fruchtbar zum Verständnis der offiziellen Repräsentation der chantischen Rentierzüchter am "Tag des Rentierzüchters" und der Rolle vielfältiger privater und halböffentlicher Räume in diesem Kontext. Die Idee zur Unterscheidung transformativer und repräsentativer Elemente in öffentlichen Ritualen entspringt den theoretischen Überlegungen Don Handelmans (1998, 2005), die von Michael Herzfeld (2001) pointiert zusammengefasst worden sind. Zum Verständnis der verborgenen Praktiken und der Rolle von Geheimnissen griff ich auf Georg Simmels (1908) Theorie des Geheimnisses als gruppenbildendes Kommunikationsparadigma zurück und auf James Scotts (1990) Konzept der "hidden transcripts" als Strategien doppelter und verborgener Kommunikation in Situationen, die von starkem Machtgefälle und klaren Gruppengrenzen geprägt sind. Dass offizielle Inszenierung und private Räume sich nicht in einfacher Dichotomie gegenüberstehen, sondern relative, ineinander verschachtelte Verhältnisse von Öffentlichkeit und internen Öffentlichkeiten bilden, ist eine theoretische Erkenntnis, die ich Susan Gal (2002, 2005) verdanke.


Forschungsmethodik

Teilnehmende Beobachtung ist ein Experiment, das der Forscher andere mit sich anstellen lässt. Die Formen der Teilnahme, das heißt die Integration aber auch Verweigerung von Integration, die Scherze über die Rolle des Forschers, in Märchen und Anekdoten versteckte Metaphern, die Praxis der Namensgebung und Formen der zeitweiligen Adoption, müssen daher in die Analyse der Forschungsmaterialien einbezogen werden. Sich in aufklärerischer Tradition verstehende Forscher übersehen leicht, dass die Grenzen der Information keine zu überschreitende Schwelle der eigenen Wissensfähigkeit sind, sondern von den Akteuren eingesetzte Schleier, die diskretem Wissen Respekt verschaffen sollen.


Der "Tag des Rentierzüchters"

Der Tag des Rentierzüchters ist ein offizielles Fest, das in den 1930er Jahren durch die Sowjetunion etabliert und bis heute in vielen Regionen Sibiriens gefeiert wird. Es sollte die sibirischen Rentierzüchter in einer für das sowjetische Konzept von Kultur geeigneten Form präsentieren. Das Programm des Festes setzt sich heute aus Kultur und Sport zusammen und folgt damit dem sowjetischen Modell, das auf Ritualtransfer vorsowjetischer Feste beruht. Auf den ersten Blick wirkt das Fest wie ein bloßes Spektakel indigener Differenz, das keine Verbindung zur realen kulturellen und religiösen Praxis der Rentierzüchter besitzt. Es ist jedoch weit mehr als ein "Potemkinsches Dorf". Der offizielle Teil ist geprägt vom Bestreben, soziale Harmonie zu präsentieren, aber die andere Seite des Ereignisses sind eine Vielzahl von Nischen und Hinterbühnen, die durch Konflikte und Praktiken der Transgression charakterisiert werden. In der symbolischen Affirmation der sozialen Ordnung wird deren Perpetuierung abgesichert. Das Einfügen in die auf der offiziellen Bühne aufgerufenen Rollen sorgt auch für die Identifikation mit der sozialen Kategorie, die dargestellt wird.
Es können verschiedene kollektive Akteure identifiziert werden, die jeweils ihre Version davon durchzusetzen versuchen, was an den Rentierzüchtern repräsentabel ist. Dazu gehört die Obrigkeit, zu der von den Rentierzüchtern die Erdölfirmen und staatlichen Institutionen zusammengefasst werden. Ihr Bestreben ist, auf der Bühne soziale Harmonie und ihre Rolle als Sponsoren und Patrone des Festes und der Rentierzüchter darzustellen. Die Rentierzüchter präsentieren auf der Bühne ihre Rolle als Schutzbefohlene des Staats und der Erdölindustrie. Für sie ist ihr Beitrag zum Fest Teil eines Gabentauschs mit der Obrigkeit, deren offizielle Ordnung sie so öffentlich im Tausch gegen die Anerkennung ihrer Autonomie im Wald und der Differenz ihres Lebensstils anerkennen. Die Touristen sind als Publikum der öffentlichen Aufführungen ebenso Partner im Tauschgeschäft um Anerkennung. Die Touristen tauschen die Anerkennung ihres eigenen Lebensstils als "kulturell höherwertig" gegen den Respekt vor der Differenz des exotischen Anderen ein. Von der Zunahme des touristischen Elements in den Festen profitieren vor allem kommerzielle Anbieter aus Gastronomie, Handel und Werbewirtschaft. Die Rentierzüchter und ihre kulturellen Artefakte, die die "Hauptattraktion" des Festes sind, werden in ethnografische Objekte verwandelt. Kulturelle Identität wird eine materielle Ressource, um deren Verfügungsrechte zunehmend Konkurrenz entsteht.
Distinktive Lebensstile als Formen der Selbstpräsentation umfassen nicht nur Praktiken der öffentlichen Repräsentation, sondern auch solche der Abgrenzung intimer, privater und exklusiver Räume. Zur Interaktion von Individuen und Gruppen gehört auch immer Rückzug von der Interaktion, Ausweichen und Verbergen.


Opferrituale

In den kollektiven Opferritualen der chantischen Rentierzüchter wird die Interaktion mit den Göttern, aber auch der Chanten untereinander strukturiert. Ihre Formen gehorchen Prinzipien, die die Rentierzüchter auch auf das Rentierhalterfest übertragen. Die Opferhandlung etabliert Informations- und Interaktionsgrenzen zwischen den Ritualteilnehmern. Die interne Öffentlichkeit der Rituale unterliegt spätestens seit der Christianisierung auch sich wandelnden Formen der Geheimhaltung nach außen. Das Opferritual repräsentiert eine interne Paraordnung und ist eine alternative symbolische Ressource. Die Intervention der Außenwelt könnte den wirksamen Ablauf der Rituale bedrohen, da diese sich nicht an die ungeschriebenen Regeln der Informationsbeschränkung hält.
Die Interaktion mit den Göttern in der Opferhandlung ist immer prekär und vom Scheitern bedroht. Sie wird deshalb durch Divinationsrituale ergänzt, die einen Kommunikationskanal zu den Göttern öffnen. Während in der Opferhandlung die repräsentativen und performativen Ritualelemente überwiegen, die sozialen Beziehungen dargestellt und bekräftigt werden, sind die transformativen Elemente, liminale Zustände und rituelle communitas im schamanischen Divinationsritual deutlicher ausgeprägt.


Intimität

Zwischenmenschlicher Respekt wird im Alltag der Rentierzüchter durch Vermeidungspraktiken und Tabus (chant.: jiməłta) ausgedrückt. Es handelt sich um Regeln der Anerkennung der sozialen Differenz zwischen Personen und der zu respektierenden Intimität. Sie enthalten die Vorstellungen der Rentierzüchter darüber, was Anerkennung und Respekt bedeuten. Die Meideregeln der Chanten untereinander stehen mit solchen zu Göttern, Geistern, Tieren und Verstorbenen in Beziehung und folgen denselben Handlungs- und Kommunikationsbeschränkungen. Sie werden aber auch auf die Interaktion mit den politisch Mächtigeren, dem Staat oder der Erdölindustrie übertragen.
Ein Komplex von Meidepraktiken ist mit dem Geschlechtsunterschied verbunden und wird mit dem unterschiedlichen Ort der Geschlechter in der kosmologischen Ordnung begründet. Ein anderer Komplex, der bisher in der Literatur von ersterem nicht getrennt wurde, regelt die Beziehungen zwischen den Angehörigen von Patrilineages, die durch Heiratsverbindungen in Beziehung stehen. In der Fachliteratur wurde bisher der Umstand vernachlässigt, dass nicht nur Meideregeln zwischen männlichen und weiblichen Affinalen, sondern auch zwischen Männern existieren. Übersehen wurde auch, dass es zu den Distanzpraktiken ergänzend besondere Nahverhältnisse gibt, wie das zum jüngeren Mutterbruder und zwischen den Ehemännern von Schwestern.
Die Prinzipien und Regeln der im Wald geltenden sozialen Beziehungen bleiben zu großen Teilen intern. Würden sie öffentlich bekannt, erhöhte sich die Gefahr, dass sie von Outsidern bewusst verletzt werden. Zum Teil stehen sie aber auch in Widerspruch zur offiziell geltenden Ordnung und gehören damit, wie die Opferrituale, zur internen Paraordnung.


Referenzen

Balzer, Marjorie M. 1999. The tenacity of ethnicity. Princeton: Princeton University Press.

Bourdieu, Pierre 1979. Die feinen Unterschiede – Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Castells, Manuel 1997. The Power of identity. The Information Age – economy, society and culture, vol. 2. Oxford: Blackwell.

Golovnev, Andrei V. 1995. Govoriashchie kul’tury: tradicii samodiicev i ugrov. Ekaterinburg: UrO RAN.

Jordan, Peter 2003. Material culture and sacred landscape: the anthropology of the Siberian Khanty. Oxford: AltaMira Press.

Wiget [Uiget], Andrew and Olga Balalaeva (eds) 1999. Ocherki istorii traditsionnogo zemlepol’zovaniia khantov. Ekaterinburg: Tezis.

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