Abteilung ‚Anthropologie des wirtschaftlichen Experimentierens‘
Wie wird unser Wirtschaftsleben im Jahr 2050 aussehen? Werden digitale Technologien und sogenannte Plattform-Unternehmen die Weltwirtschaft bestimmen? Werden sich Gesellschaften von der Globalisierung abwenden und Produktion und Konsumption wieder ins Inland holen? Welche neuen Quellen des Gewinns wird es geben, und wie werden diese neuen Gewinne erzielt werden? Was werden Arbeit, Fürsorge, Werte und schlussendlich das Leben selbst bedeuten?
Prognosen sind immer ein heikles Unterfangen. Es wird immer schwieriger, die Zukunft vorherzusehen. Die allgemein unter dem Namen „Neoliberalismus“ zusammengefasste Wirtschaftsnorm, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges etabliert hat, hat ihre Legitimität verloren. Die Klimakrise, rasant steigende Ungleichheit sowie zunehmende soziale Konflikte spornen uns an, nach Alternativen zu suchen. Dennoch scheinen selbst nach schweren Schocks wie der Finanzkrise 2008 und der Pandemie 2019–2020 systemische Transformationen, die mit dem New Deal und den Entwicklungen der Nachkriegszeit vergleichbar sind, unwahrscheinlich.
Ebenfalls überholt zu sein scheint die Diagnose, dass sich die Weltwirtschaft in eine bestimmte Richtung ändert, repräsentiert etwa durch die Diskurse der 2000er Jahre über das aufstrebende Asien oder die wachsende Bedeutung der Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika (der sogenannten BRICS-Staaten). Der Hype um „Chimerica“ – das Zusammenwachsen der chinesischen und amerikanischen Wirtschaften – wird zunehmend durch den Frost eines neuen Kalten Kriegs ersetzt. Wir leben in einer Welt ohne Gravitationspunkt: die Änderungen vollziehen sich hier und dort, in unterschiedlichen Sektoren und Orten sowie in verschiedenen Formen. Logistische Entwicklungen, E-Commerce, Gig-Working, Medizintourismus, virtuelle Schulen …, sie folgen unterschiedlichen Logiken und haben widersprüchliche Auswirkungen.
Diese Änderungen nenne ich „Frontiere“, weil sie unerforschte Gebiete eröffnen und ungewisse gesellschaftliche Folgen mit sich bringen. Oft manifestieren sich diese Änderungen als ein Experimentieren, das durch technologische und demographische Dynamiken – aber auch durch Schocks wie Pandemien, Rezessionen und Katastrophen – vorangetrieben wird, und nicht auf der Grundlage sorgfältig ausgearbeiteter Blaupausen. Die Plattform-Ökonomie hat zum Beispiel den Marktzugang erweitert, aber gleichzeitig die Lebensgrundlagen vieler Menschen noch prekärer gestaltet. Plattformen bieten potenziell eine Option zur Entwicklung von Instrumenten, um Sozialhilfe direkt an Menschen in Not zu liefern; sie setzen aber ihre Gig-Arbeitskräfte und sogar ihre Kund*innen der Überwachung durch Algorithmen aus. Rationalisierende Logistik mag Kosten sparen, aber sie führt auch zu mehr Umweltbelastung aufgrund eines erhöhten Konsums.
In unserer Abteilung beschäftigen wir uns mit drängenden Fragen, die mit diesen Entwicklungen zusammenhängen: Was sind die charakteristischen Dynamiken dieser Frontiere? Welche soziopolitischen Änderungen führen sie herbei oder verhindern sie? Wie können wir diese Frontiere miteinander zu breiteren Fronten für systemische Transformationen verknüpfen – nicht mittels großer, von oben durchgesetzter Strategien, sondern mittels grundlegenden gemeinsamen Lernens.
In der Anfangsphase richtet sich unser Fokus auf drei weitverbreitete Dynamiken, die den Frontieren des Experimentierens zugrunde liegen:
(1) die zunehmende Mobilität der Bevölkerung als Basis wirtschaftlicher Funktionsweisen;
(2) die Intensivierung der Mediation in Transaktionen als Prozess der wirtschaftlichen Re-Organisation;
(3) die Bedeutung von Aktivtäten, die das Leben erhalten – von Bildung bis Unterhaltung – als einer neuen Quelle der Wertschöpfung.
Darüber hinaus sollen in der Abteilung vielfältige Aktivitäten ins Leben gerufen werden, um den Wissensaustausch zwischen dem Globalen Norden und Süden und zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu fördern.
Große Ideen, feine Details
Die Untersuchung von Frontieren der Transformation bedarf neuer ethnographischer Methoden und Theorien. Das bedeutet nicht, dass unsere derzeitigen Erfahrungen vollkommen neu und unbekannt sind, oder dass die etablierten Theorien falsch sind. Viele Aspekte der Wirtschaft bleiben unverändert, und das Spektrum menschlicher Erfahrung kann nach wie vor auf eine kleine Anzahl von „Grundformen“ reduziert werden. Für die heutige Zeit brauchen wir aber neue Theorien, um die spezifischen Formen der Organisation und Vermittlung unserer aktuellen ökonomischen Praktiken zu erfassen. Ohne die historischen Kontinuitäten außer Acht zu lassen, widmet sich unser analytischer Blick den Widersprüchen, Dynamiken und potenziellen Brüchen (inklusive Zusammenbrüchen). Neue Theorien ermöglichen neue Problematisierungen. Sie stellen neue Fragen, anstatt diese auszuschließen. Sie regen an, neu zu denken, zu diskutieren und zu agieren.
Wir wollen Ethnographien erstellen, die ebenso große Ideen und breitgefächerte Überblicke bieten wie differenzierte, feinkörnige Betrachtungen. Eine große Idee ist groß, weil sie die Bedeutungen kleiner Handlungen präzise wiedergibt. Eine große Idee ist eine Idee – keine pauschale Aussage, sondern ein Gedanke, der anregt und ermächtigt – weil sie auf die Widersprüche und Hoffnungen des Lebens hindeutet. Wie die Frontiere der Transformation ist auch unsere Arbeit experimentell. Wir werden Technologie, Natur, Archive, Big Data und virtuelle Realität in unsere Ethnographie einbeziehen. In allen Phasen von der Planung bis zur Verbreitung der Ergebnisse, werden wir mit verschiedenen Gesprächspartnern zusammenarbeiten: Künstler*innen, Journalist*innen, politischen Entscheidungsträger*innen und vor allem: mit den Menschen, denen unsere Forschung gewidmet ist.
Projekte
Unsere spezifischen Forschungsaktivitäten werden einem ständigen Wandel unterliegen, der sich an den Schwerpunkten und Initiativen der Postdoc Wissenschaftler*innen orientiert. In der ersten Phase sind folgende Projekte vorgesehen: