Computervermittelte Gastfreundschaftnetzwerke in Sibirien: Erforschung der Reziprozität, des Vertrauens und der sozialen Verbundenheit entlang der TransSibirischen Eisenbahn und darüber hinaus
Computervermittelte Gastfreundschaftnetzwerke sind internetbasierte Plattformen, die es Menschen erlauben, andere Menschen kostenlos in ihren Privatwohnungen unterzubringen. Die Beziehung wird zuerst in der virtuellen Umgebung hergestellt und dann direkt in eine Offline-Beziehung überführt. Vor dem "Offline-Treffen" zwischen Gastgebern und Gästen sind sich beide in den meisten Fällen völlig fremd. In den letzten Jahren sind solche Netze, die vollkommen neue Formen der Gastfreundschaft und Reisekultur ermöglichen, in der weltweiten Beliebtheit, besonders unter Jugendlichen, gewachsen. Die globale Mitgliederzahl von CouchSurfing.org -- dem populärsten Gastfreundschaftnetzwerk der Welt -- ist von 2007 bis 2009 von 250.000 auf 1.6 Millionen gestiegen (Zuev 2008a). In Russland zählt dieses Netzwerk zurzeit etwa 10.000 Mitglieder, unter denen 6.000 in Moskau und St. Petersburg wohnen. Ungefähr 1.000 Mitglieder in Sibirien nehmen regelmäßig "Couch-Surfer" in ihren Häusern auf oder machen selbst bei ihren Reisen im In- und Ausland von diesem Netzwerk Gebrauch. Die Mitgliederzahl wird vermutlich weiter zunehmen, so dass sich neue Wege der Raumnutzung im Tourismus und anderen Feldern der räumlichen Mobilität auftun werden. Vorhandene westliche Perspektiven (Bialski und Batorski 2009, Molz 2007) betrachten das Phänomen von Gastfreundschaftsnetzwerken vor allem im Rahmen einer neuen Form von Weltbürgertum und anhand von Werten wie Vertrautheit; sie übersehen dabei aber die mögliche Vielfalt sozialer Bedeutungen in der Praxis bei verschiedenen Gruppen mit verschiedenen soziokulturellen Hintergründen und in verschiedenen soziogeographischen Kontexten. Bisher ist die Rolle, welche die visuelle Darstellung von User-Profilen bei der Herstellung von Vertrauen zwischen den Usern spielt, größtenteils ignoriert worden. Visuelle Hinweise sind entscheidend im Herstellen von Vertrauen online und für das Verstehen der zusätzlichen Funktionen, die das Netzwerk für Jugendliche bietet. Methodologisch zeichnet sich diese Studie dadurch aus, dass sie die Analyse sowohl von verbalen als auch visuellen Aspekten der Teilnehmerprofile des Gastfreundschaftnetzwerkes integriert. Die Studie nimmt auf der theoretischen Ebene eine sozialräumliche Perspektive ein (Lefebvre 1991, Teo&Leong 2006, Zuev 2006, 2008, 2009), welche CouchSurfing (CS) als eine raumbezogene Praxis betrachtet, der verschiedene Wertvorstellungen und ein unterschiedlicher Grad der Emotionalität seitens der Teilnehmenden zu Grunde liegen. Dieser Ansatz baut auf bereits vorliegenden Studien vom CouchSurfing als einem Raumphänomen (Pultar und Raubal 2009) auf. Er ermöglicht, das sich verändernde Muster des individuellen Jugendtourismus von gewerblich vermittelten Formen (wie Rucksacktourismus) hin zu internetbasierten, organisierten Netzwerken zu umreißen. Absicht der Studie ist es, die sozialen und moralischen Implikationen des Phänomens der Gastfreundschaftnetzwerke zu erforschen und sie als einen Zugang zu verwenden, um Formen der Reziprozität, des Vertrauens und der sozialen Verbundenheit in der heutigen Gesellschaft zu untersuchen. Es wird analysiert, wie computervermittelte Netzwerke wie das CouchSurfing nicht nur eine spezifische Ideologie der Beziehung zwischen Gastgeber und Gast erzeugt, welche durch das Internet vermittelt wird, sondern auch eine Zersplitterung der räumlichen Mobilität und der Reisemuster unter den Reisenden provoziert. Die Studie umfasst drei Hauptaufgaben. Das erste Ziel ist die Erforschung der ideologischen Untermauerung des computervermittelten Reisens und der Gastfreundschaft, insbesondere das Prinzip der kostenlosen Gastfreundschaft der CS-Gemeinschaft, welche die dominierenden Werte der Reziprozität in einer Marktwirtschaft anzufechten scheint. Die zweite Aufgabe liegt in dem Verständnis, wie Vertrauen im Rahmen von Online-Gemeinschaften hergestellt wird. In einer Gesellschaft, die von der Maxime gekennzeichnet ist, dass man niemandem vertrauen kann, macht es für die Studie Sinn, die Bedingungen und Prozesse, welche Vertrauen im Rahmen computervermittelter Kommunikation erzeugen, zunächst einmal infrage zu stellen. Die dritte Aufgabe ist, die Modalitäten der tatsächlichen CouchSurfing-Praxis im Offline-Kontext zu untersuchen, und zwar einerseits auf der Kontaktebene zwischen Gastgebern und Gästen, als auch andererseits hinsichtlich der inneren Dynamik zwischen der räumlichen Aneignung, der räumlichen Bewegungsabläufe und der Wertesysteme, die durch CS erzeugt und vermittelt werden. Zur Bearbeitung der oben formulierten Aufgaben wird sich meine Forschung auf das CouchSurfing Gastfreundschaftnetzwerk in Sibirien konzentrieren, um mittels geeigneter Methoden zwei Datensätze zu erzeugen. Der erste Datenbestand wird durch die Analyse visueller und verbaler Elemente in den Profilen der CS-Mitglieder erzeugt, wobei die Webseite als Datenarchiv genutzt wird. Die Verwendung von Inhaltsanalyse-Software wird eine quantitative Untersuchung dieser Profile erlauben sowie allgemeine Merkmale der untersuchten Gemeinschaft darstellen. Dies ermöglicht, sowohl die Sozialstruktur der CSGemeinschaft in Sibirien, als auch immer wiederkehrende Themen und Bilder zu identifizieren und Korrelationen zwischen verschiedenen Inhaltsformen zu testen. Der zweite Datenbestand wird durch Interviews, die sich auf ausgewählte Fotografien beziehen (photo elicitation interviews), mit einer Anzahl an Couchsurfern an mehreren Orten in Sibirien und dem Fernen Osten Russlands (Krasnojarsk, Irkutsk, Vladivostok, Jakutsk) generiert. Die Interviews werden sich auf wiederkehrende Themen konzentrieren, die sich aufgrund der Inhaltsanalyse abgezeichnet haben. Sie verfolgen das Ziel zu verstehen, was Leute genau meinen, wenn sie bestimmte Formulierungen oder Ausdrucksweisen und Bilder in ihren individuellen Profilen verwenden. Außerdem werden einige Befragte mit ihrer Zustimmung von mir begleitet.Zur Gewährleistung von Variation im Datenbestand wird die statistisch nicht-representätive stratifizierte Stichprobenziehung nach Trost (1986) verwendet. Diese Vorgehensweise unterscheidet sich von der des Schneeballverfahrens und der Methode des permanenten Vergleichs [nach Glaser und Strauss] und erlaubt, die Dynamik und die Vielfalt von Beziehungen besser zu verstehen, anstatt Schätzungen vorzunehmen oder Prävalenzen zu bestimmen. Die Schlüsselverfahren in der Stichprobenerhebung beinhalten das Erstellen einer Liste von unabhängigen Variablen, die für ihre Zweiteilungen und für die Studie insgesamt wichtig sind. Die ausgewählten Variablen werden dann in einer Tabelle erfasst, die als Orientierungshilfe in der Stichprobenerhebung dient.
Auswahl des Forschungsgebiets
'Sibirien', als eine historisch gewachsene soziale und imaginäre Entität, liefert einen aufschlussreichen sozialen und geografischen Kontext für diese Studie. Sibirien ist im Allgemeinen nie ein Ziel für Massentourismus gewesen. Aus verschiedenen Gründen – Industrialisierung, die Existenz geschlossener Städte, eine periphere Position, der beschränkte Zugang zu Ressourcen und Infrastrukturen, die die Mobilität fördern (Konsulate, Hauptumschlagplätze, kulturelle Zentren) – hatten viele sibirische Städte nicht so viel kommerzialisierten Reiseverkehr oder interkulturellen Kontakt wie die Städte in Europa. Mit dem Aufkommen des CouchSurfing sind die entlang der Transsibirischen Eisenbahn gelegenen Orte zu großen Knotenpunkten geworden, die Reisende aus der ganzen Welt anziehen. Trotz der stark ausgeprägten Saisonalität (von Mai bis September) ist das CouchSurfen das Vehikel für den interkulturellen Kontakt zwischen den hochgradig mobilen ausländischen Gästen und den weniger mobilen sibirischen Gastgebern geworden. In diesem Kontext werden historisch gewachsene Normen der Gastfreundschaft und Vorstellungen des Vertrauens – unterschieden nach Klasse und anderen sozialen Kriterien – häufig konfrontiert mit sich einander widersprechenden Vorstellungen von Gastfreundschaft. Die Existenz der sub-ethnischen Identität als sibiriak erzeugte die gängige Behauptung, dass die sibirische Gastfreundschaft unverwechselbarer und authentischer als die europäisch-russische Gastfreundschaft sei, dass sie universeller und weniger kommerzialisiert (als in Moskau oder St. Petersburg) sei, dass sie umfassender und auch besser erhalten sei. Zur gleichen Zeit schafft die zunehmende Migration von Wanderarbeitern nach Sibirien (in erster Linie aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, aus China und Vietnam) ein widersprüchliches Bild Sibiriens – einerseits Randgebiet des europäischen Russlands, andererseits aber auch eine Quelle der Existenz und Sozialfürsorge für die Bevölkerung des "Fernen" und "Nahen" Auslands. Sibirien steht einem Problem der sozialen Hierarchisierung der Gäste gegenüber – nämlich dem Dilemma, welche Gäste ein Mehr an Gastfreundschaft und Vertrauen verdienen und welche nicht. Die entscheidende Frage ist: Reproduziert CouchSurfing im sibirischen Kontext Weltoffenheit und kommunistisch-internationalistische Werte, oder geht die Weltoffenheit gegenüber einigen Gästen mit dem Ausschluss anderer Gäste einher? Spezifische Forschungsfragen bezüglich der sibirischen Gemeinschaft der Couchsurfer sind mit der räumlichen Mobilität junger Leute verbunden. Reisen junge Leute mit dem Entstehen und der Entwicklung des CS-Netzwerkes mehr? Fühlen auch sie eine "Zentrum-Peripherie"- Teilung im digitalen Zeitalter? Reisen sie intensiv (überwiegend an einen Ort) oder extensiv (an mehrere Orte)? Reisen sie mehr innerhalb ihres eigenen Landes oder im Ausland? Ist CouchSurfing physisch und emotional eher belastend oder eher belebend? Ein anderer praktischer Aspekt, der Sibirien als Fokus der Forschung stützt, liegt in der Zugänglichkeit zu Daten; ich stamme selbst aus Krasnojarsk, war der erste CS-Gastgeber dort und habe die Entwicklung von CouchSurfing in Russland seit 2006 durch direkte Beteiligung sowohl als Gastgeber als auch als Gast an verschiedenen Orten in Russland beobachtet. Die Projektergebnisse werden voraussichtlich in verschiedenen wissenschaftlichen Zeitschriften wie z.B. dem Journal of Computer-Mediated Communication, New Media&Society und Annals of Tourism Research veröffentlicht.
Bibliographie
Bialski, P. and P. Batorski (2009) "Familiar Strangers: Trust and social navigation in a community which functions online and offline". In: J. Ang and P. Zaphiris (Hrsg.): Social Computing and Virtual Communities. Boca Raton, Florida: CRC Press Chapman & Hall.
Lefebvre, H. (1991) The Production of Space. Oxford: Blackwell.
Molz, J.G. (2007) "Cosmopolitans on the Couch: Mobile hospitality and the internet". In: J.G. Molz and S. Gibson (ed.): Mobilizing Hospitality: The ethics of social relations in a mobile world. Ashgate.
Pultar, E. and M. Raubal (2009) "Progressive Tourism: Integrating social, transportation and data networks". In: Nalin Sharda (ed.): Tourism informatics: Visual travel recommender systems, social communities, and user interface design. No place: Idea Group Reference.
Teo, P. and S. Leong (2006) "A Postcolonial Analysis of Backpacking". Annals of Tourism Research 33: 109-131.
Trost, J.E. "Statistically nonrepresentative stratified sampling: A sampling technique for qualitative studies". Qualitative Sociology 9(1): 54-56.
Zuev, D. (2006) "Reconstructing the Meanings of Traveling among Young People in Modern Russia: The use of the photo interview". European Spatial Research and Policy 13(1), 113-132.
Zuev, D. (2008a) "Cross-Cultural Comparison of Visual Self-Presentations and Use of Visuals in a Social Networking Site: The case of www.couchsurfing.com". Paper presented at the 1st ISA Forum of Sociology, Barcelona, 5-8 September 2008.
Zuev, D. (2008b) "The Practice of Free-Traveling: Young people coping with access in postsoviet Russia". Young: Nordic Journal of Youth Research 16(1): 5-26.
Zuev, D. (2009) "Computer Mediated Traveling: Negotiating geographic space by means of CouchSurfing". In: D. Picard (Hrsg.): Emotion in Motion: The passions of tourism, travel and movement (conference proceedings). Leeds: CTCC/Leeds Met University.