Die (Un)möglichkeit sozialanthropologischer Forschung in Corona-Zeiten

11. Juni 2020

Anfang März war ein kritischer Wendepunkt im Selbstverständnis vieler Europäerinnen und Europäer. Die mediale Verbreitung dramatischer Szenen aus hoffnungslos überfüllten Krankenhäusern in Norditalien, verzweifelte Aufrufe von Krankenhauspersonal und Bilder überfüllter Leichenwägen führte zur kollektiven Einsicht, dass wir uns inmitten einer Pandemie befanden. Das mysteriöse neue Corona Virus und der damit verbundene gesellschaftliche Lockdown ließen sich nicht mehr wie in den Monaten zuvor auf das weit entfernte China reduzieren. Mit der Verbreitung der Bilder aus Italien verankerte sich in den Köpfen vieler Menschen das Bewusstsein, dass Covid-19 bereits mitten unter uns war und dass es eine größere Bedrohung darstellte als eine vorübergehende Grippewelle. Mit dieser Einsicht ging es Schlag auf Schlag. In beispielloser Geschwindigkeit wurden das öffentliche und wirtschaftliche Leben heruntergefahren, Grenzen geschlossen und die Bewegungsfreiheit auf ein Minimum eingeschränkt. Plötzlich konnte vieles, was soeben noch Teil des Selbstverständnisses vieler Bürgerinnen und Bürger liberaler Demokratien gewesen war, nicht mehr als gegeben hingenommen werden. Selbst simple Formen der Alltagsmobilität wie die Ausübung der Arbeit, die Fahrt dorthin in öffentlichen Verkehrsmitteln, Einkäufe oder der Besuch bei Bekannten und Familie waren auf einmal mit komplexen bürokratischen und moralischen Einschränkungen behaftet.

Das Verschwinden der Alltagswelt
Die Covid-19 Pandemie stellt auch Sozialanthropologinnen und Anthropologen vor enorme Herausforderungen. Während Artikel für Fachzeitschriften oder Bücher sich vom Refugium des Homeoffice schreiben lassen und Meetings oder Lehrveranstaltungen vorübergehend auf Onlineplattformen verlegt werden können, ist das Herzstück unserer Forschung auf der all unsere Einsichten beruhen – die Beobachtung und Analyse der soziokulturellen Alltagswelt – ohne direkten Kontakt zu Menschen unmöglich. In der öffentlichen Debatte ist immer wieder über die weitreichenden Konsequenzen der vorübergehenden Schließung von naturwissenschaftlichen Forschungslaboren die Rede. Ohne Zugang zu Maschinen, technischem Equipment oder Materialien, so die Befürchtung, können Experimente nicht durchgeführt werden, wodurch sich für die Gesellschaft wichtige medizinische, technische und naturwissenschaftliche Innovationen verzögern. Weitaus weniger ist über die Auswirkung der Corona Einschränkungen auf sozialwissenschaftliche Forschungsfelder zu hören. Dabei sehen sich viele empirisch arbeitende Forscherinnen und Forscher mit ähnlichen Problematiken konfrontiert wie ihre naturwissenschaftlichen Kollegen. Dies betrifft auch unser Fach. Das „Labor“ sozialanthropologischer Forschung ist jedoch nicht in einem Forschungsinstitut angesiedelt, sondern in der Gesellschaft selbst, und die „Experimente“ sind die sozialen Prozesse welche dort stattfinden. Wenn dem gesellschaftlichen Leben der Stecker gezogen wird, werden dem Sozialanthropologen also die Grundlage für die Wissensproduktion entzogen.

Leere Straßen, verschlossene Türen
In den letzten Monaten musste meine Forschungsgruppe schmerzhaft feststellen, wie unmöglich ethnografische Forschung unter solchen Umständen ist. Die Gruppe beschäftigt sich mit der Bedeutung von Zugehörigkeit, Tradition und Entfremdung in einer von rasantem globalem Wandel geprägten Welt. Der Fokus liegt dabei auf Berggemeinden im deutschsprachigen Alpenraum und auf die Frage, welche Rolle Geschichte in der Herstellung eines Zusammengehörigkeits- oder Fremdheitsgefühls spielt.  Der politische Backlash gegen inklusive Ideen, der sich in den vergangenen Jahren in vielen Gesellschaften breitgemacht hat, zeigt dass sich die Fragen, die meine Forschungsgruppe zu beantworten versucht, nicht nur auf die kleinen Dörfer  beschränken lassen, wo unsere Forschung stattfindet, sondern weltweit von gesellschaftspolitischer Relevanz sind. Doch just als wir uns auf den Weg in die österreichischen, deutschen und italienischen Gemeinden machen wollten, in denen unsere Feldforschungen stattfinden sollten, machte Covid-19 uns einen Strich durch die Rechnung.

Ethische Verantwortung in der Krise
Die behördliche Anordnung, soziale Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren, verunmöglicht das Entstehen von Forschungsbeziehungen, die das Rückgrat jeder ethnografischen Forschung sind. Wenn öffentliche Räume der Begegnung menschenleer sind, Gespräche am Stammtisch im Dorfwirtshaus verstummen, alle Feste und Veranstaltungen abgesagt werden und Menschen sich in den Schutz der eigenen vier Wände zurückziehen, muss auch die sozialanthropologische Forschung auf Eis gelegt werden. Neben diesen praktischen Schwierigkeiten, die uns dazu zwangen, unsere Feldforschung auf unbestimmte Zeit zu verschieben, gab es auch wichtige ethische Beweggründe. Als Forscherinnen haben wir die Verantwortung, die Konsequenzen unserer Schritte stets abzuwägen und unsere Forschungspartnerinnen und Partner vor jeglichem Schaden zu bewahren. Da Sozialanthropologinnen und Anthropologen sich während einer Feldforschung kontinuierlich zwischen verschiedenen Haushalten, sozialen Gruppen und Individuen hin- und herbewegen, riskieren sie während einer Hochphase der Pandemie zur Verbreitung des Virus beizutragen. Dieses Risiko bezeugt die Notwendigkeit, die ethischen Prinzipien unseres Faches ernst zu nehmen und unsere Forschungsinteressen hintenan zu stellen.

Anthropologische Forschung neu erfinden  
Wie schwer die Corona Krise unser Fach getroffen hat, zeigt sich in den zahllosen Blogposts, Artikeln in Fachzeitschriften und online Workshops, die in den letzten Monaten entstanden sind und sich mit dringlichen Fragen beschäftigen: Wie gehen wir mit dieser Ausnahmesituation um? Wie stellen wir sicher, dass die Krise die nächste Generation des Faches – jene Dissertantinnen und Dissertanten, die ihre Forschungen unterbrechen mussten oder gar nicht erst antreten konnten, – nicht zum Stillstand zwingt und sie die Werkzeuge unserer Wissensproduktion sachgemäß erlernen? Und können wir die fundamentalen Auswirkungen welche die Corona Pandemie auf das Alltagsleben von Menschen weltweit hat, erforschen, ohne vor Ort zu sein? Wie so oft in Krisensituationen, macht die Not erfinderisch. Da das soziale Leben sich vielerorts auf das Internet verlagert hat, haben viele Anthropologinnen und Anthropologen ihre Methoden angepasst und forschen nun online. Auch für uns stellten Onlinetools und soziale Medien eine gute Möglichkeit dar mit unseren Feldforschungsorten und den Menschen, die dort leben, in Kontakt zu bleiben, ohne dort zu sein. Doch wir mussten auch feststellen, dass Onlineethnografie längerfristig kein Ersatz für die Feldforschung vor Ort sein kann. Online Beobachtungen geben eben doch nur Einblick in die sehr spezifische Domäne der Onlinewelt, ein Ort, an dem andere Regeln gelten als in der „offline“ verankerten sozialen Welt. Die Online-Forschung ist stark von Narrativen abhängig, aber eine Stärke ethnografischer Forschung ist gerade, dass sie weiter blicken kann als die Informationen, die Menschen uns in Interviews geben. Nur das längerfristige Eintauchen in die Gegebenheiten vor Ort erlaubt es uns, Phänomene in ihrer vollen Komplexität zu beobachten und die wortlosen, ungeschriebenen Gesetze, die das soziale Zusammenleben maßgeblich prägen wahrzunehmen und zu analysieren.

Die Pandemie und ihr Folgen verstehen
Während der öffentliche Diskurs der vergangenen Monate sich aus guten Gründen stark auf die Expertise von Virologinnen, Epidemiologen und Medizinerinnen fokussiert hat, wächst zunehmend die Einsicht, dass die vielen fundamentalen Fragen und Problemstellungen, die das Corona Virus aufwirft nicht nur durch mathematische Modelle oder quantitative Prognosen gelöst werden können. Dies zeigt sich nicht zuletzt im wachsenden Misstrauen der Bevölkerung gegenüber politischen Entscheidungsträgerinnen- und trägern, dem Unmut gegenüber den Medien und in der rasanten Ausbreitung von Verschwörungstheorien. Durch ihren Ansatz, Wissen aus den gelebten Erfahrungen von Menschen zu generieren, kann die Sozialanthropologie eine wichtige Rolle in der Erforschung der gesellschaftspolitischen Umwälzungen spielen, welche die Corona-Krise aufwirft. Dies trifft auch auf meine Forschungsgruppe zu. Fragen der Zugehörigkeit und Entfremdung haben durch die gesellschaftlichen Transformationsprozesse, die durch die Pandemie ausgelöst wurden, in den vergangenen Monaten weiter an Bedeutung gewonnen. Die Rückkehr in eine Art Normalität in vielen Teilen Europas geben Grund zur Hoffnung, dass wir diesen Phänomenen schon bald wieder in den bayrischen, kärntner und südtiroler Dörfern nachgehen können, die wir im März so überstürzt verlassen mussten. Solange die Pandemie nicht überwunden ist und es keinen Impfstoff gegen Covid-19 gibt, wird eine Rückkehr in die Feldforschung jedoch nur mit vielen Abstrichen und unter äußerster Vorsicht möglich sein.

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