Politische Kommunikation jenseits von "Wahrheit und Lüge". Materielle Vermittlungen, öffentliche Versammlungen und das theatralische Idiom der politischen Rede in Mumbai

Dieses Forschungsprojekt untersucht theatralische Register in der politischen Kommunikation des zeitgenössischen Indiens und interessiert sich besonders für jene Inszenierung, die die Gestalt von massenpolitischen Versammlungen in Mumbai prägen. Politische Versammlungen gelten hier als Instanzen politischer Rede und Repräsentation. Um sie zu verstehen, untersucht das Projekt – über einen Zeitraum von zehn Jahren – den Charakter von Massenansammlungen in der Form von öffentlichem Protest, Sit-Ins, Prozessionen und Wahlkundgebungen. Indem Theatralität und Performanz als Idiome politischer Kommunikation ernst genommen werden, können Engführungen binären Denkens vermieden werden. In der öffentlichen Wahrnehmung oder etablierten Theoriedebatten werden Inhalte politischer Rede häufig als entweder wahr oder falsch eingeordnet. Im Gegensatz dazu zeigt das ethnographische Material aus der pulsierenden und affektiv aufgeladenen materiell-politischen Landschaft Mumbais, dass die Register politischer Kommunikation, Vermittlung und Repräsentation hier auf eine wesentlich reichhaltigere Palette von Vorstellungen und Bewertungsmaßstäben treffen.

Björkmans Ethnologie der Politik, die Versammlung, Vermittlung und Repräsentation in den Vordergrund rückt, baut auf älteren Arbeiten zur Alltagspolitik von Versorgungsinfrastruktur (insbesondere Wasserversorgung) auf. Für das aktuelle Projekt hat sie zwischen 2012 und 2020 drei Forschungen durchgeführt. In der ersten Phase untersuchte sie die Rolle von Geldgeschenken und Geldtausch in der Wahlsaison für die Rekonfiguration soziopolitischer Netzwerke von Macht und Autorität. Entgegen gängiger Forschung, die Geldzirkulation in der Regel als Formen von "Korruption" und "Klientelismus" untersucht, stellt Björkman fest, dass der Austausch in der Wahlsaison komplizierte, kontingente und höchst spekulative Informationsnetzwerke belebt, durch die demokratische Repräsentation produziert und hervorgebracht wird. In diesen Artikulationen äußern sich nicht zuletzt auch die Anfechtungen und Ansprüche von Bürger*innen. Die zweite Forschungsphase untersuchte Fragen der "Repräsentation", indem sie das explizit theatralische Register des zeitgenössischen politischen Lebens durch seine materiellen Echtzeit-Inszenierungen kartographierte. Anstatt "Theatralität" als Gegensatz von "Authentizität" zu begreifen, wurde untersucht, wie Theatralität als Idiom der politischen Kommunikation, als Instanz der Öffentlichkeit und als performative Inszenierung von Repräsentation funktioniert. Die dritte, aktuelle Phase konzentriert sich auf normative Diskurse über Massenpolitik und öffentliche Versammlungen. In Mumbai erscheinen einige Massenversammlungen als bewusste, geplanten (gar manipulierte) Inszenierungen, während es von anderen heißt, dass sie spontan entstehen. Dieses Projekt untersucht die spannungsreichen Beziehungen zwischen normativen Diskursen über Masseninszenierungen (Inszenierungen von Massen) einerseits und der "irreduziblen Materialität" (Keane 2007: 274) kommunikativer und bedeutungsgebender Praktiken andererseits.

Der ethnografische Blick auf die Materialität politischer Kommunikation wirft Fragen über die Wechselbeziehungen zwischen verkörperten Massen und virtueller Massenkommunikation auf. Welche wechselseitige Beziehung gibt es zwischen in Echtzeit stattfindender politischer Rede und der Herstellung virtueller "Öffentlichkeiten" durch soziale Medien oder Mobiltelefonen? Trotz der Allgegenwärtigkeit sozialer Medien – und ihrer Bedeutung auch für politische Kommunikation – gibt es bisher kaum sozialwissenschaftliche Forschung zur Beziehung zwischen technologischer Ermöglichung und Modi der politischen Kommunikation im virtuellen Medium. Gerade weil Plattformen wie WhatsApp eine vermeintliche Erfahrung von Unmittelbarkeit und Intimität vermitteln, stellt sich die Frage nach den Formen politischer Kommunikation, die durch diese Kanäle verbreitet wird. Diese Form der „Intimität“ wird werden verglichen mit dem verkörperten, materialisierten Echtzeit-Charakter von Massenveranstaltungen, und der ihnen eigenen gedrängte Ko-präsenz von Körpern im Raum. Der Vergleich ermöglicht Reflektionen über den Effekt technologischer Vermittlungen und den sensorischen Ermöglichungen von digitalen Plattformen. Das Projekt verfolgt die intellektuelle Ambition, Crowd-Theorie zu erweitern und über den gängigen Engführung auf Fragen von Affekt hinauszugehen.

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