Anthropologie löst Debatten im chinesischen Technologiesektor aus

31. März 2021

Am 25. März 2021 organisierte der chinesische Technologie-Riese Tencent, Betreiber der App WeChat mit über 1,2 Milliarden Nutzern, einen Dialog zwischen Biao Xiang, Direktor der Abteilung 'Anthropologie des ökonomischen Experimentierens: Frontiers of Transformation' am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, und Datenexperten und Wirtschaftsanalysten von Top-Tech-Unternehmen. Unter dem Titel " Human, Algorithm and System" baute die Diskussion auf Xiangs Vortrag auf, den er bei der Tencent-Jahreskonferenz am 9. Januar 2021 in der Sektion "Technologies for the Good" gehalten hatte.

Die Videoaufzeichnung von Xiangs Vortrag im Januar wurde mehr als 190.000-mal angeklickt. Sie zog außerdem eine Reihe von ausführlichen Kommentaren nach sich, einschließlich des Artikels "Is there value in the ‘laziness’ brought about by food delivery service – responses to Xiang Biao's Three questions” in der chinesischen Financial Times, am 17. Januar 2021. http://www.ftchinese.com/story/001091063?full=y&archive

In seinem Vortrag auf der Tencent-Konferenz im Januar beschäftigte sich Xiang mit dem Verhältnis von Algorithmen und Arbeit. Dabei legte er den Schwerpunkt auf den Zeitdruck bei der Arbeit. In Anlehnung an Sidney Mintz' Studie "Worker in the Cane" aus dem Jahr 1960 verglich er Lieferkuriere, denen per Algorithmus Aufträge erteilt werden, mit Zuckerrohrerntearbeitern im Lateinamerika des 19. Jahrhunderts. Die Kuriere des 21. Jahrhunderts müssen immer schneller fahren, weil der Algorithmus die Zeit kontinuierlich verknappt, die für die Erledigung eines Auftrags zur Verfügung steht. Das führt zu Verhältnissen, die der ständigen Angst der Plantagenarbeiter im 19. Jahrhundert nicht unähnlich sind. Sie lebten bei der Ernte permanent in der Furcht, dass sie von den nachfolgenden Arbeitern verletzt werden, wenn sie zu langsam sind, da sie beim Schneiden des Zuckerrohrs sehr dicht aufeinander folgten. Xiang beleuchtete dann mögliche Auswirkungen der Plattformökonomie auf das soziale Leben im Allgemeinen. Er stellte die Vermutung an, dass eine zentrale Strategie bei der Ausbreitung des Plattform-Kapitalismus das Einfangen von Menschen ist. Denn das Ziel von Plattformunternehmen ist es, so viele Nutzer wie möglich von ihren Angeboten abhängig zu machen. Sie tun dies, indem sie die Aufmerksamkeit der Nutzer gewinnen, die Übernahme neuer Lebensstile fördern – einschließlich der "Faulheit", also der mangelnden Bereitschaft, Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen – und die Verhaltensdaten der Nutzer sammeln, um individualisierte Dienstleistungen anzubieten. Und diese Strategie ähnelt der Praxis in vormodernen "galactic polities" in Südostasien. Wie Stanley Tambiah zeigte, strebten galactic polities stets danach, Menschen zu abhängigen Subjekten zu machen. Dementsprechend waren die Menschen und nicht das Land oder andere materielle Ressourcen die Haupteinnahmequelle der Herrschenden.

Das Gespräch am 25. März 2021 setzte dann den Dialog zwischen Ethnologie, Technologie und Wirtschaft fort. "Dies ist wirklich eine aufregende Zeit. Die Tech-Branche ist sehr an sozialen Theorien interessiert, weil sie nicht weiß, welche langfristigen Auswirkungen all die Technologien haben und wohin wir uns entwickeln. Dies schafft eine seltene Gelegenheit für einen echten interdisziplinären Dialog", sagt Xiang.

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