Emmy Noether-Gruppe: Sand - Die Zukunft von Küstenstädten im Indischen Ozean

 

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Als zentraler Bestandteil des Meeresbodens, betonierter Hafenanlagen und vom Meer "zurückgewonnenem" Land ist Sand ein wesentlicher Bestandteil städtischer Infrastruktur. Er bildet die Grundlage für bewohnte Ufer und gibt ihnen Form, indem er Land und Beziehungen zum Meer materialisiert. Die Bedeutung von Sand für die Befestigung städtischer Küstenlinien nimmt weiterhin zu - die Bauindustrie benötigt Sand, um „widerstandsfähige“ Städte zu bauen, während Gemeinden Sand brauchen, um Lebensräume und -grundlagen vor steigenden Fluten und gegen Erosion zu schützen. Die globale Verstädterung und Bevölkerungswachstum führen zu einem sprunghaften Anstieg der Nachfrage nach Sand, insbesondere in Asien und Afrika. Der Verlust von Land und Angst vor den Auswirkungen des Klimawandels führen zu Befestigungspraktiken, die immer mehr Sand erfordern.

Sand ist somit zu einem der wichtigsten Materialien im Schutz von städtischem Eigentum geworden. Angesichts dieses explosionsartigen Anstiegs der Nachfrage warnen Wissenschaftler:innen und Journalisten:innen, dass die Zeit für Sand knapp wird. Die übermäßige Verwendung im Rahmen von Landgewinnungsprojekten und Bauvorhaben erschöpft nicht nur Ressourcen, sondern verursacht auch schwerwiegende ökologische Schäden, indem sie Sedimentationsprozesse an Küsten beeinträchtigt, das Meerwasser trübt und verschiedene Ökosysteme stört. Trotz dieses Trends ist nur wenig über urbane Metabolismen, die auf Sand angewiesen sind, bekannt. Das gilt nicht nur für den Indischen Ozean, sondern auch für den Mittelmeerraum oder den Pazifik.

Ein Fokus auf Sand bietet kreative Möglichkeiten einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung von städtischer Umwelt. Er kann unsichtbare Techniken, soziale Arrangements und Arten von Infrastrukturen aufzeigen, die es Bewohner:innen, Gemein-schaften und anderen Akteur:innen ermöglichen, Küsten entsprechend meteorologischer und klimatischer Schwankungen zu gestalten. Eine Berücksichtigung von Sand zeigt zudem die Verflechtung von lokalen Küstenwelten und globalen Verschiebungen. Die Untersuchung der grundlegenden Rolle des Sandes bei der Gestaltung von Küstenwelten baut auf früheren Arbeiten von Lukas Ley auf, in welchen untersucht wurde, wie Küsteninfrastruktur in Meeresökologie eingebettet ist. Ihr Schutz erfordert alltägliche Instandhaltungsmaßnahmen. Durch die Verlagerung des Blickwinkels auf Sand selbst – ein materielles “Ding” mit höchst flexiblen, zersetzenden und verstärkenden Eigenschaften – kann das Projekt nicht nur Probleme wie Territorium, Ökosystem und Überleben neu betrachten. Es schlägt auch grundlegend neue Ideen und Methoden für die Untersuchung im Anthropozän entstehender Sozionaturen vor.

Die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen ökonomischen und ökologischen Rahmenbedingungen von Sandverwendung führt zu folgenden Forschungsfragen: (a) wie steuert und organisiert Sand den Küstenschutz im Indischen Ozean und (b) wie kann eine Beschäftigung mit Sand unsere Theorien von städtischer Natur beeinflussen?
Um diese Fragen zu beantworten, wird die Forschungsgruppe verschiedene Praktiken des Küstenschutzes in vier Hafenstädten des Indischen Ozeans untersuchen. Das Projekt definiert Küstenschutz als infrastrukturelle Investitionen, die darauf abzielen, das Leben und die soziale Reproduktion in Gezeitenzonen zu erhalten und zu gestalten. Diese Arbeiten werden von den Küstengemeinschaften selbst, aber auch von Arbeiter:innen oder Naturschutzakteur:innen durchgeführt. Bewegungen mit und Aneignung von Sand sind notwendige Anpassungen an die wechselhafte Natur des Küstenlebens im Indischen Ozean, wo Gezeiten, Strömungen und Winde unbeständige Bedingungen für menschliches Leben schaffen. Die Dokumentation von Küstenschutzprojekten gibt des Weiteren Aufschluss über die unsichtbaren Operationen von Sand, die das Leben an der Küste mitgestalten und verändern, und zeigt, wie sie in Strukturen der Ressourcengewinnung und städtischen Verwaltung eingebunden sind. Das Projekt vergleicht materielle Interventionen im Zusammenhang mit Sand in verschiedenen Hafenstädten und zielt darauf ab, Formen der Umweltgestaltung im Zeitalter des Landverlusts aufzudecken und neu zu denken.
Sorgfältige Vor-Ort-Forschung mit Einzelpersonen und Gemeinschaften wird es dem Team ermöglichen, Weisen zu verstehen, auf welche Sand in Küstenlandschaften anfällt und erodiert. Die detaillierte Beschreibung alltäglicher und regelmäßiger Interaktionen mit Sand, die ihnen zugrunde liegende Alltagsethik und der kulturelle Kontext, in dem sie sich abspielen, wird ermöglichen, ein in situ Verständnis von Mensch-Sand-Beziehungen zu entwickeln. Das Team wird an ausgewählten Küstenschutzstandorten (Siedlungen, Überschwemmungsschutzprojekte, Strände, Mangrovenplantagen usw.) ethnografische Untersuchungen durchführen und dabei eine Mischung aus qualitativen Forschungsmethoden anwenden. Zu den Forschungsmethoden gehören teilnehmende Beobachtung, Interviews, partizipative Kartierung und andere Visualisierungsinstrumente (Fotos, Skizzen). Darüber hinaus sammelt das Team Planungsdokumente und sichtet Archiv- und Pressematerial, um die soziotechnischen Genealogien und Bedingungen der menschlichen Interaktion mit Sand im Kontext des Küstenmanagements zu rekonstruieren. Jede Studie sammelt außerdem Luft- und/oder Satellitenbilder von Orten, die durch Sand umgestaltet wurden, wie z. B. Küstenlinien, Strände oder Stadtlandschaften, um die sich verändernden Sandablagerungen und -nutzungen zu visualisieren.

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