Das Alumni-Interview: 10 Fragen an Minh Nguyen

3. Juli 2019

1. Von wann bis wann waren Sie am MPI und was haben Sie hier gemacht?
Ich war von 2011 bis 2016 Research Fellow und habe als Mitglied der Fokusgruppe „Social Support and Kinship in China and Vietnam“ in der Abteilung „Resilienz und Transformation in Eurasien“ an einer Studie über Pflege und Migration in Nordvietnam gearbeitet.

2. Wo sind Sie jetzt und was machen Sie dort?
Seit Anfang 2018 bin ich Professorin für Sozialanthropologie an der Universität Bielefeld. Es wird gemunkelt, dass Bielefeld eine Stadt ist, die es gar nicht gibt – ich werde nicht versuchen, Sie vom Gegenteil zu überzeugen. Sie müssen selbst nach ihr suchen, wenn Sie das Gerücht beunruhigt.

3. Wie sehr hat Ihre Tätigkeit am MPI Ihre jetzige berufliche Situation geprägt?
Ich wurde im Fach Internationale Entwicklung promoviert, und obwohl mein methodischer Ansatz schon seit langer Zeit ethnologisch war, habe ich erst hier allmählich zur beruflichen Identität einer Anthropologin gefunden. Hier hatte ich die Zeit und die Autonomie, meine Forschungsinteressen zu entwickeln, mein berufliches Netzwerk aufzubauen und ich habe in der Zeit am MPI mehr Bücher gelesen als je zuvor. Hier habe ich auch die Spielregeln der akademischen Welt kennengelernt und das Vertrauen gewonnen, dass ich mich in diesem Spiel behaupten kann.

4. Was fällt Ihnen zuerst ein, wenn Sie an die Zeit am MPI zurückdenken?
Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer wissenschaftlichen Gemeinschaft mit gemeinsamen Interessen, Sorgen, Unsicherheiten aber auch mit einem gewissen Stolz. Die Möglichkeit, interessante Wissenschaftler aus der ganzen Welt zu treffen. Das MPI ist ein großartiger Knotenpunkt für den internationalen Austausch exzellenter Wissenschaftler und zwar nicht nur mit Wissenschaftlern aus Europa und den USA. Außerdem prägt das MPI wichtige Diskussionen zum Zustand unserer heutigen Welt. Außergewöhnlich war auch die praktische Unterstützung, die wir als Forscher erhielten.

5. Haben Sie noch Kontakt zum MPI und wenn ja, welchen und zu wem?
Ich verfolge wichtige Ereignisse am Institut und ein paar gute Freunde und Kollegen sind noch da; außerdem lade ich MPI-Wissenschaftler zum Austausch nach Bielefeld ein, und manchmal komme ich auch selbst nach Halle.

6. Woran forschen Sie im Augenblick?
Ich habe ein allgemeines Interesse an der gesellschaftlichen Organisation von Pflege auf verschiedenen Ebenen, einschließlich der staatlichen Pflege. Und ich arbeite derzeit an einigen vergleichenden Studien über die soziale Situation der Landbevölkerung und der Arbeitsmigranten aus anderen Landesteilen in China und Vietnam. Eine dieser Studien wird vom Europäischen Forschungsrat finanziert: https://www.uni-bielefeld.de/(en)/soz/welfarestruggles/index.html

7. Was planen Sie in der Zukunft?
Ich werde weiter daran arbeiten, die Ethnologie an der Universität Bielefeld so zu entwickeln, dass sie von der Zugehörigkeit zur größten soziologischen Fakultät Deutschlands möglichst umfassend profitiert. Und ich werde weitere vergleichende Untersuchungen zu Arbeit, Wohlfahrt und Mobilität in anderen globalen Kontexten als China und Vietnam durchführen.

8. Warum sind Sie Ethnologin geworden?
Mein Verständnis der Welt wurde nuancierter und reicher durch die anthropologischen Werke, die ich gelesen, und die anthropologische Forschung, die ich selbst durchgeführt habe. Ich liebe diese Art der Forschung, die dazu führt, das Leben der Menschen kennenzulernen und gemeinsame Muster und Themen zu identifizieren, die in verschiedenartigen Lebensformen an verschiedenen Orten eine Rolle spielen. Ich liebe es, mich zwischen Alltagsrealitäten und theoretischen Ideen hin und her zu bewegen. Und ich liebe das Unerwartete, die glücklichen Entdeckungen und zufälligen Begegnungen bei der ethnologischen Feldarbeit.

9. Was würden Sie heutigen Studierenden der Ethnologie raten?
Bitte romantisieren Sie die Anthropologie nicht. Wie jede andere sozialwissenschaftliche Disziplin muss sie strenge Kriterien erfüllen, was die Qualität der Daten und Analysen betrifft – und das ist harte Arbeit. Ethnographische Feldarbeit ist harte Arbeit, manchmal ist sie sogar zermürbend. Am Anfang scheint man ewig Zeit zu haben, aber die Zeit verrinnt rasch. Man muss Geduld haben und offen sein. Aber es ist genauso wichtig, einen tragfähigen und zielgerichteten Plan zu haben, denn Disziplin ist für die Ethnographie ebenso wichtig wie Offenheit und Flexibilität. Schreiben ist schließlich auch harte Arbeit, die getan werden muss – warten Sie nicht, bis Sie die Motivation zum Schreiben finden, tun Sie es einfach. Und lassen Sie sich bitte nicht von Leuten einschüchtern, die mit großen Worten und großen Namen um sich werfen. Respekt vor wahrer Gelehrsamkeit den sollten Sie allerdings bewahren.

10. Welcher Text – Buch oder Artikel – hat Sie in letzter Zeit beeindruckt?
Sweetness and Power: The Place of Sugar in Modern History by Sidney W. Mintz
The Exemplary Society: Human Improvement, Social Control, and the Dangers of Modernity in China by Børge Bakken

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