"Methodenprobleme der deutschen Sozialgeschichte. Deutschland 1870 - 1933 - eine Gesellschaft sozialer Klassen?"

Deutschland in den sechs Jahrzehnten vor Hitler – eine soziale Klassengesellschaft. Die Menschen heirateten vor allem innerhalb ihrer Klasse, sie verbrachten ihre Freizeit überwiegend in ihrer Klasse, ihre Lebenswelt entsprach ein gutes Stück weit ihrer Klasse. Und so bildeten sie im ganzen Land soziale Gruppen: die so genannten „sozialen Klassen“.

Wir wissen gar nicht genau, inwieweit die Menschen soziale Klassen bildeten

Das ist ein häufig vertretendes Bild von der deutschen Gesellschaft dieser Epoche. Über die Geschichtswissenschaft hinaus hat es Einzug in die Soziologie gehalten, in die Ausstellungen und Websites wichtiger Museen und ist auch ein Bestandteil der Lehrpläne an deutschen Schulen. Doch es hat einige Schwachpunkte, die bisher in der Forschung kaum thematisiert wurden. Genau darum geht es in meiner Doktorarbeit. Ich analysiere darin dieses Gesellschaftsbild, diskutiere seine wichtigsten Autoren und analysiere genau jene Schwachpunkte. Ich zeige darin unter anderem, dass bisher niemand die Existenz sozialer Klassen repräsentativ für ganz Deutschland beweisen konnte – und erkläre, warum das mit den gängigen überlieferten Quellen auch gar nicht wirklich präzise möglich ist.

Eine neue Methode: Soziale Kontaktprofile erstellen

Im Anschluss daran präsentiere ich eine neue Methode, die ich entwickelt habe und mit der man zumindest überprüfen kann, ob es lokale Tendenzen für eine soziale Klassenbildung gab: die Historische Sozialgruppen-Analyse (HSG). Sie beruht auf den Erkenntnissen der sozialen Netzwerkforschung und ist maßgeschneidert für alle historischen Lebensräume, die Sozialhistoriker in den Blick nehmen: Städte, Dörfer, Stadtviertel, Regionen. Wie die HSG-Analyse funktioniert, zeige ich dann am Beispiel einer exemplarischen Fallstudie zu einer Kleinstadt (deren Ergebnisse selbstverständlich nicht repräsentativ für ganz Deutschland sind). Ich betrachte darin ausführlich die soziale Gruppenbildung im preußischen Delitzsch zwischen 1870 und 1930 – auf der Grundlage einer Datenbank mit mehr als 40.000 eingetragenen Personen, mit der sich einige hunderttausend soziale Beziehungen rekonstruieren lassen. 

Eine exemplarische Fallstudie zu einer Kleinstadt

Diese Fallstudie ist der Praxisleitfaden für die Anwendung der HSG-Analyse. Sie soll andere Forscher dazu anregen, weitere Lebensräume mit dieser Methode zu untersuchen - in der Hoffnung, dass wir so ein deutlich differenzierteres Bild von den sozialen Gruppen der deutschen Gesellschaft als bisher erhalten. Die Ergebnisse der Fallstudie zeigen sehr deutlich: In Delitzsch gab es keine sozial getrennte Klassengesellschaft. Die Menschen gingen gemeinsam in Vereine, wohnten nebeneinander, waren Trauzeugen oder Taufpaten und heirateten einander – quer durch alle Klassen. Nur die oberen und unteren Klassen hatten etwas weniger Kontakt zueinander, schotteten sich aber nicht voneinander ab. Vermutlich lag dies daran, dass Delitzsch als Kleinstadt überschaubar war; man konnte sich nicht aus dem Weg gehen, brauchte einander um das soziale Leben der Stadt zu organisieren.


In den folgenden Abschnitten finden Sie eine ausführlichere Einführung in die drei Teile meiner Arbeit: zum vorherrschenden Bild der deutschen Gesellschaft, zur Historischen Sozialgruppen-Analyse (HSG) und zur Delitzsch-Studie.

Das Bild von der deutschen Gesellschaft

Die historische Sozialgruppen-Analyse (HSG-Analyse)

Die Delitzsch-Fallstudie

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