Die Delitzsch-Fallstudie

Die Fallstudie zu Delitzsch ist die erste umfassende Sozialstrukturanalyse einer deutschen Kleinstadt in Kaiserreich und Weimarer Republik. Sie beruht zum einen auf 124 Personenverzeichnissen mit über 45.000 eingetragenen Personen, die von meinem studentischen Assistenten, freiwilligen Mitarbeitern aus Delitzsch und den Mitgliedern des Vereins für Computergenealogie in eine Datenbank eingetragen wurden. Die folgende Übersicht zeigt, welche dieser Verzeichnisse analysiert wurden:

Typ

Anzahl Quellen

Eingetragene Personen

Vereine, politische und teilpolitische Organisationen

98

5.879

Heiratsregister

6

1.568

Kirchenbücher: Taufpaten

6

1.391 

Kirchenbücher: Trauzeugen

6

1.400

Adressbücher

6

29.575

Wählerverzeichnisse

4

5.242

Einzelverzeichnisse: Schulkassen, Elternbeiräte, Streikteilnehmer, Vereinsvorstände und mehr

16

200

Für die Delitzsch-Studie verwendete Verzeichnisse

Aus diesen Daten wurden erstellt:

  • Kontaktprofile der einzelner Klassen mit der HSG-Analyse: Inwieweit gingen die Menschen soziale Beziehungen nur innerhalb ihrer Klasse ein? Wie sah dies bei den starken, wie bei den schwachen Beziehungen aus?
  • Vergleich der Kontakte aller Klassen Beziehungsart für Beziehungsart: Gibt es Klassen, die von anderen Klassen besonders ausgegrenzt wurden?
  • Analysen von 16 verschiedenen Einzelquellen: Wie setzten sich einzelne Schulklassen, städtische Gremien, Parteien oder Petitionsgruppen zusammen? Wer führte Streiks an, wer engagierte sich in Elternbeiräten an den Schulen?
  • Soziale Hierarchien: Welche Vertreter welcher Klassen wurden in die Vereinsvorstände gewählt? Welche saßen bei städtischen Festen auf den Ehrentribünen, welche besetzten wichtige Ehrenämter?

Zum anderen beruht die Delitzsch-Studie auf einer umfangreiche Analyse der Stadtstruktur. Dabei steht die räumliche Gliederung des Ortes im Fokus, die Gewerbe- und Wirtschaftsstruktur, die Vereinslandschaft, die städtischen Feste, das Schulsystem sowie weitere Facetten der Stadt. All diese Aspekte wurden analysiert unter der Frage: Wie hingen sie mit der sozialen Gruppenbildung in der Stadt zusammen?

Keine sozial getrennte Klassengesellschaft

Die Ergebnisse sind deutlich: Keine Klasse blieb in Delitzsch unter sich und schottete sich gegenüber allen anderen Klassen ab – im Gegenteil: Alle Klassen waren sozial sehr offen. Nur die obersten und untersten Klassen hatten bei – manchen - Beziehungsarten wenig Kontakt, etwa bei den unpolitischen Organisationen und den Taufpatenschaften. Die soziale Offenheit resultierte vermutlich daraus, dass Delitzsch eine kleine Stadt war: zu klein, als dass die Einwohner zum Beispiel in voneinander getrennten Wohnvierteln hätten leben oder Vereine gründen können, die man sich nur „klassenexklusiv“ betreiben ließen. Und zu groß und wirtschaftlich zu ausdifferenziert, als dass es dort eine einzelne Klasse gegeben haben könnte, die von einer anderen einseitig abhängig war.

Im Folgenden nun eine Auswahl an Diagrammen aus der Studie. Die einzelnen Balken stehen für eine Gruppe und zeigen, zu wem diese Gruppe prozentua­­­­l gesehen eine Beziehung einging:

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