Das Bild von der deutschen Gesellschaft

Deutschland in Kaiserreich und Weimarer Republik: eine Gesellschaft sozialer Klassen. Dieses Bild wird von sehr vielen Autoren vertreten; sie werden häufiger zitiert, als die, die diese Ansicht nicht vertreten. Bei genauerem Hinsehen stellt sich jedoch heraus: Es besteht weder eine präzise Vorstellung noch ein Konsens darüber, welche sozialen Klassen es in Kaiserreich und Weimarer Republik genau gegeben und welche Gestalt diese im Einzelnen gehabt haben sollen (wer also dazugehörte). Die einzige wirklich bisher als Klasse „vermessene“ Gruppe ist die Arbeiterschaft.

Theoriedesiderate, schwer vergleichbare Studien

Ein weiteres Forschungsproblem ist die Tatsache, dass die meisten Studien nur sehr bedingte Aussagen über die genaue Gestalt von Klassen treffen können. Denn die einen fügen Einzelbeispiele zu einem scheinbar stimmigen Gesamtbild zusammen, indem sie etwa wenige Zufallsfunde über das soziale Leben einzelner großstädtischer Arbeiterfamilien als stellvertretend für „die deutsche“ Arbeiterklasse anführen. Die anderen nehmen zwar die Einwohner ganzer Orte in den Blick, untersuchen aber nur deren soziale Beziehungen bei einer oder wenigen Beziehungsformen (etwa Heiraten oder Vereinsbesuch). Außerdem ordnen sie die jeweiligen Einwohner meist in Klassen oder Schichten ein, die auf Kriterien beruhen, die nicht präzise operationalisiert wurden.

Eine Minderheit der Deutschen steht für ein ganzes Land

Auch ist die bisherige Studienlage nicht repräsentativ: Die meisten Arbeiten zu Klassen im Kaiserreich befassen sich mit großen Städten. Dabei lebte dort nur eine Minderheit der Bevölkerung, wie das folgende Schaubild zeigt:

Für die Weimarer Republik wiederum existieren fast überhaupt keine Sozialstrukturanalysen, die das Bild von einer sozialen Klassengesellschaft stützen könnten. Einige Überblickswerke schließen stattdessen von Parteien, Verbandsführern und der Ereignisgeschichte auf eine scheinbar zerissene Gesellschaft – von großstädtischen Eliten und politischen Epizentren also, die gar nicht repräsentativ für „die“ deutsche Gesellschaft sein können.

Einleitung

Die historische Sozialgruppen-Analyse (HSG-Analyse)

Die Delitzsch-Fallstudie

Zur Redakteursansicht