Konferenzbericht "Law, Islam and Anthropology"

20. August 2019

Die Konferenz „Law, Islam and Anthropology“, 9. bis 10. November 2018, war eine Gemeinschaftsveranstaltung der Abteilung „Recht & Ethnologie“ am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung (MPI), der Gesellschaft für Arabisches und Islamisches Recht (GAIR) und der Vereniging tot bestudering van het recht van de Islam en het Midden Oosten (RIMO).

Die Konferenz mit dem Titel „Law, Islam and Anthropology“, die am 9. und 10. November 2018 unter der gemeinsamen Federführung der Abteilung ‚Recht und Ethnologie‘ des MPI, GAIR und RIMO stattfand, hatte zum Ziel, Wissenschaftler und Praktiker aus den Fachdisziplinen Rechts- und Islamwissenschaft wie auch der Ethnologie zusammenzubringen, um sich über gemeinsame Forschungsschwerpunkte in den drei sich überschneidenden Bereichen auszutauschen. Die auf der Konferenz vorgestellten Beiträge befassten sich mit ethnographischen Beobachtungen sowie methodischen und epistemologischen Aspekten von Normativität, die dem Islam und islamischen Kontexten zugeschrieben werden. Die Themen waren vielfältig und umfassten sowohl traditionelle als auch neue Ansätze, von der Regelung familiärer Beziehungen und islamisch geprägte Finanzierungstechniken bis hin zu Aspekten muslimisch verstandener Alltagsethik. Fragen wie akteursbedingte soziale Unterschiede und gesellschaftsübergreifende Prozesse bei der Interpretation und Anwendung islamischen Rechtsvorstellungen und islamischer Traditionen wurden ebenso behandelt. Die auf der Konferenz diskutierten unterschiedlichen Perspektiven sollten dazu beitragen, die vielfältigen Wahrnehmungen von Interdisziplinarität in den jeweiligen Bereichen zu identifizieren und somit deren Verständnis zu bereichern.

Die Konferenz wurde von der Geschäftsführenden Direktorin des MPI Marie-Claire Foblets eröffnet. Sie gab einen Überblick zur Geschichte und den Zielen der Abteilung ‚Recht und Ethnologie‘. Foblets machte deutlich, dass die Konferenz das Ergebnis einer langjährigen Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Rechtspraktikern sei, die sich mit Recht und Islam befassten, sowie der Initiative, Rechtspraktiker in einen Dialog zu Themen einzubinden, die für Recht und Islam relevant seien. Sie ermutigte alle Teilnehmer*innen dazu, als Wissenschaftler*innen Verantwortung für die wichtigen Themen zu übernehmen, die bei der Veranstaltung diskutiert werden sollen.

Susan Rutten (Universität Maastricht) stellte daran anschließend RIMO vor und begrüßte die neue Zusammenarbeit zwischen GAIR, RIMO und dem MPI. Sie verlieh ihrer Hoffnung Ausdruck, dass die Konferenz lediglich das erste von vielen regelmäßigen Treffen sein werde. Rutten merkte mit Bedauern an, dass viele hochqualifizierte Forscher dieses (islam)wissenschaftliche Feld wegen dessen Politisierung verließen und dass dieses Fachwissen nun verlorengegangen sein könnte. Dies sei insbesondere zu einem Zeitpunkt misslich, zu dem in der Rechtspraxis mehr Wissen zu den Interdependenzen von Recht und Islam benötigt werde. Die Aktivitäten von RIMO richteten sich an ein breiteres Publikum  und hätten einen direkten Bezug zum Recht. RIMO veranstalte eine jährliche Konferenz in Leiden. Die dort präsentierten Studien würden in der Nomos-Serie von Brill veröffentlicht. RIMO biete darüber hinaus auch eine elektronische Datenbank mit Gerichtsentscheidungen in niederländischer Sprache an, in der der Islam in vielfältiger Weise eine Rolle spiele. Ferner führe die niederländische Vereinigung einen Schreibwettbewerb für Studierende zu den Themen Islam und Recht sowie zum Recht des Nahen Ostens durch.

Hatem Elliesie (MPI), stellvertretender Vorstandsvorsitzender der GAIR und Editor-in-Chief der Zeitschrift für Recht & Islam, stellte die GAIR kurz vor und berichtete über deren Jahreskonferenzen und die Sitzungen ihrer Arbeitsgruppen. Dies ergänzte er durch Erläuterung des jüngsten Vorhabens, der Gründung einer neuen Arbeitsgruppe mit der Bezeichnung Junges Netzwerk „Recht und Islam“. Elliesie äußerte die Hoffnung, dass diese Bemühung, Nachwuchspraktiker*innen und Wissenschaftler*innen zusammenzubringen, dazu beitragen könne, der Zielsetzung der GAIR, Disziplingrenzen zu überwinden, voranzubringen.

Das erste Panel, moderiert von Yafa Shanneik (University of Birmingham), beschäftigte sich mit dem Thema Auto-Ethnographie und ethisches Handeln in der Feldforschung. Annelies Moors (Universität Amsterdam) hielt einen Vortrag zum Thema „Anthropologists in the Field of Islam: An Auto-Ethnographic Note on Ethics, Integrity and Academic Freedom”. Dabei handelte es sich um einen auto-ethnographischen Beitrag zur Bedeutung der Analyse von unerwarteten Erfahrungen, die während der Feldarbeit auftreten können. Sie berichtete über eine wahre Begebenheit aus ihrer eigenen wissenschaftlichen Berufspraxis an einer niederländischen Hochschule. Dabei handelte es sich um eine Veröffentlichung in einer ethnologisch ausgerichteten Fachzeitschrift über ein Forschungsprojekt, das sich auf niederländischsprachige Frauen konzentrierte, die in ǧihādī-Gebiete des IS reisen. Der Artikel wurde von einer überregionalen Tageszeitung aufgegriffen und löste einen Aufschrei in den Medien aus, der letztlich sogar in eine parlamentarischen Untersuchung mündete. Die öffentliche Besorgnis habe sich offenbar auf die mangelnde Transparenz der Forscher*innen in Bezug auf die Informant*innen konzentriert. Ferner wies sie auch auf die Gefahren für muslimische Forscher*innen hin, die in einem Klima des Ethno-Nationalismus bestehen würden. Sie plädierte dafür, die Anforderungen an die wissenschaftliche Ethik mit dem jeweiligen Erkenntnisinteresse in Beziehung zu setzen. Sie vertrat die Ansicht, dass die Verschiebung der Aufmerksamkeit auf politische Werte für die akademische Freiheit problematisch sein könne.

In der Diskussion zu Moors Vortrag wiesen die Teilnehmer*innen auf Parallelen zur Arbeit von Journalist*innen und deren entsprechende Verantwortung für den Schutz ihrer Informant*innen sowie auf den unterschiedlichen Status von Informationen in der ethnologischen Forschung im Vergleich zu denen im Journalismus hin. In der Ethnologie stehe nicht die Identität der Gesprächspartner*innen im Vordergrund, sondern das, was der Forscher / die Forscherin von ihm/ihr erfahre. Ein weiterer Unterschied in den ethischen Regeln der beiden Bereiche bestehe darin, dass Journalisten das Recht hätten, die Identität ihrer Quellen zumindest bis zu einem gewissen Grad zu schützen, während Ethnologen dieses Recht nicht hätten. Es wurde darauf hingewiesen, dass es der Forscher / die Forscherin sei, der/die die Last der Glaubwürdigkeit trage, und dass Transparenz in dieser Situation wenig hilfreich sei, da die Plausibilität der gesammelten Informationen völlig von der Integrität des Forschers / der Forscherin als Augenzeuge/Augenzeugin abhänge. Moors wies schließlich erneut auf die Sicherheit von Nachwuchswissenschaftler*innen hin. Unter Bezugnahme auf den in ihrem Vortrag beschriebenen Fall berichtete sie, dass Journalist*innen sogar beabsichtigt hätten, die Privatadresse einer jungen muslimischen Wissenschaftlerin, die an dem Projekt beteiligt gewesen sei, zu veröffentlichen. Während sie von Medienvertreter*innen verfolgt worden sei, sei sie auch negativen Reaktionen von hochrangigen Wissenschaftler*innen ausgesetzt gewesen, die versucht hätten, sich von ihr zu distanzieren.

Im zweiten Panel unter Leitung von Vishal Vora (MPI) präsentierten Iris Sportel (Radboud University Nijmegen) und Ashrad Muradin (University of Leiden) ihre Arbeiten. In ihrem Vortrag „Muslim Family Law Across Borders – Law in the Everyday Life of Transnational Families“ präsentierte Sportel eine Studie zur Scheidung zwischen niederländisch-marokkanischen und niederländisch-ägyptischen Familien. Sie untersuchte, wie sich das muslimische Familienrecht über Staatsgrenzen hinweg auswirkte und wie Menschen mit verschiedenen Familienrechtssystemen interagierten. Sie beschrieb die Geschichte einer Marokkanerin, die einen Mann in Marokko geheiratet habe und beide dann in die Niederlande eingewandert seien, wo sie sich schließlich scheiden lassen wollten. Der Streit zwischen den beiden betraf die Anwendung des Scheidungsrechts. Die Frau habe behauptet, dass das niederländische Recht gelten müsse, da es die gleiche Aufteilung des Vermögens vorsehe, und der Mann behauptete, dass das marokkanische Recht anzuwenden sei, weil sie in diesem Land geheiratet hätten und nach diesem Recht seine Interessen besser geschützt seien. Sportels Präsentation ihrer Drei-Länder-Studie wies auf eine Reihe von Problemen hin, die aufträten, wenn es darum gehe, Ehe und Scheidung über Staatsgrenzen hinweg zu regeln. Diese umfassten beispielsweise die unterschiedlichen Dokumente, die von unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten verlangt würden, die Übersetzung dieser Dokumente, die rechtliche Gültigkeit von Ehe und Scheidung in unterschiedlichen Staaten und schließlich auch die kulturellen Differenzen. Anschließend untersuchte sie, wie mit Paaren umgegangen werde, die aus verschiedenen Staaten kämen oder eingewandert seien, welche praktischen Probleme aufträten und wie diese Fälle von den Behörden im Rahmen alternativer kulturell sensibler Streitbeilegungssysteme behandelt werden könnten. Abschließend wies Sportel darauf hin, dass es viele Gründe für den unterschiedlichen rechtlichen Umgang gebe, und dass es nicht konstruktiv sei stets anzunehmen, dass das Verhalten von Menschen immer auf religiösen oder kulturellen Regeln beruhe. Dies solle jedoch nicht bedeuten, dass es keinen Raum für Kultur und Religion geben dürfe. In der anschließenden Diskussion vertrat Sportel die Ansicht, dass Menschen stark von ihren Erfahrungen mit Rechtssystemen geprägt seien und dass Menschen mit unterschiedlichem rechtlichen und kulturellen Hintergrund ähnliche Erfahrungen machen könnten. Sie wies darauf hin, dass es wichtig sei, einen Schritt zurückzutreten und sich weniger auf die Frage nach gemeinsamen Werten zu konzentrieren, sondern vielmehr darauf zu achten, was die Menschen vom Recht wollten und erwarten könnten und auf dieser Basis nach Konfliktlösungen zu suchen.

Der Vortrag von Ashrad Muradin (Universität Leiden) trug den Titel „Informal Family Dispute Resolution Among Dutch-Moroccan Muslims: Recent Debates and Developments“. Seine Forschung baut auf Studien auf, die sich damit befassen, welche rechtlichen Lösungen für Ehestreitigkeiten marokkanischen Frauen in den Niederlanden zur Verfügung stehen. Sein Ziel sei es, eine Forschungslücke in diesem Bereich zu schließen, indem er untersuche, wie muslimische Mediationspraktiken in Ehestreitigkeiten durch muslimische Expert*innen nicht als Alternative zu den Gerichten genutzt werde, sondern als sinnvoller Weg zur Schaffung und Beendigung von Beziehungen im Einklang mit Glauben und kulturellen Werten. Muradins Forschung habe ergeben, dass muslimische Gemeinschaften insbesondere in ihrem unmittelbaren Umfeld nach Rat und Unterstützung suchten und sich dabei häufig an religiöse Experten wenden würden. Aus religiöser Sicht würde man eine gütliche Lösung bevorzugen, da Muslim*innen einen religiösen Verpflichtungskanon teilen würden, Feindseligkeiten zu beenden und nach friedlichen Lösungen zu suchen. Die Studie verdeutliche die Relevanz, welche Muslim*innen der Aufrechterhaltung des „eigenen“ Wertesystems beimessen würden, und ihre Tendenz, „westliche liberale Werte“ abzulehnen. Zu den Schwierigkeiten, die während der Studie aufgetreten seien, hätten auch Fragen des Vertrauens und der Zurückhaltung gehört, über ein so sensibles Thema zu sprechen. Denn Eheprobleme würden außerhalb des engen Familienkreises in der Regel nicht offen diskutiert. Weitere Schwierigkeiten hätten sich aus der gebotenen Wahrung der Privatsphäre der Mitglieder der untersuchten Gemeinschaft ergeben und wie dies mit Fragen der Neutralität und Transparenz in Einklang gebracht werden könne. Die Untersuchung zeige auch die Veränderung der Rolle der Imame: Obwohl Imame sich typischerweise nicht mit Eheproblemen befassen würden, hätten in den Niederlanden inzwischen einige auf die wachsende Nachfrage reagiert. Sie würden allerdings nun die Einsicht in Dokumente wie Kontoauszüge oder Adressnachweise der Parteien fordern, ehe ein Ratsuchender und/oder eine Ratsuchende von ihnen Hilfe erwarten könne. Gleichzeitig ist Muradin in seiner Studie zum Schluss gekommen, dass es Spezialisten gebe, die dieselben Dienstleistungen anbieten und mit den Imamen konkurrieren würden. Diese Spezialisten seien im niederländischen Recht ausgebildet, und würden eine Beratungspraxis die kulturelle und religiöse Versöhnung betreffend entwickeln. Muradin verwies ferner auf die zentrale Bedeutung von Vertrauen, deren konzeptionelle Bedeutung nicht nur zwischen den muslimischen Gemeinschaften in Europa, sondern auch zwischen Muslim*innen und Nichtmuslim*innen differiere.

Im dritten Panel Conference programmeunter dem Vorsitz von Björn Bentlage (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) hielt Bertram Turner (MPI) einen Vortrag mit dem Titel „Anthropology of Code Switching: Navigating Religion and Normativity in Rural Morocco“. Turner erforschte in Marokko, wie sich Dorfbewohner intensiv mit den „richtigen“ Konfliktlösungen beschäftigten, die ihrer Meinung nach den Anforderungen an eine echte islamische Lebensführung entsprechen müssten. Um dieses Ziel zu erreichen, würden sie eine Vielzahl von Strategien einsetzen, was auch das sogenannte Code-Switching einschließe. Der Begriff „Code-Switching“ komme ursprünglich aus der Linguistik und bezeichne die Verwendung von mehr als einer Sprache innerhalb einer Interaktion. Der Begriff sei für diese Forschungsbetrachtung verwendet worden, um den Wechsel zwischen unterschiedlichen Rechtssystemen zu verdeutlichen und, um zu zeigen, wie die Menschen zwischen verschiedenen Strategien zur Konfliktbewältigung wählten. Mit ethnographischen Beispielen veranschaulichte Turner die Praxis des Code-Switching und der Auswahl von Redewendungen, die von den Dorfbewohnern bei der Suche nach den besten Möglichkeiten der Rechtsanwendung angewandt wurden, während sie sich durch externe Gesetze wie etwa transnationale Rechtsvorschriften navigierten. Techniken zur Eindämmung von Konflikten und zum richtigen Leben, einschließlich dessen, was Turner als „Zwangsharmonie“ und „geringe Gewaltintensität“ bezeichnete, wurden anschließend diskutiert. In der anschließenden Diskussionsrunde befasste man sich auch mit den Beziehungen und der Sprache, die in der Kommunikation der Dorfbewohner mit den „Gesetzeshändlern“, wie Staatsbeamten, Entwicklungshelfern und Vertretern von religiösen Gemeinschaften, eine Rolle spielen würden.

Das thematische Konferenzprogramm des ersten Tages wurde durch zwei Festakte ergänzt: Der Präsentation der Festschrift zum 65. Geburtstag von Hans-Georg Ebert durch die Herausgeber, Beate Anam (MPI), Thoralf Hanstein (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz) und Hatem Elliesie folgte ein Laudatio von Hatem Elliesie, der dem Jubilar für seine unermüdliche Arbeit und Anleitung während seiner Zeit als Vorsitzender der GAIR (2009–2015) dankte. Anschließend überreichte der Vorsitzende des GAIR-Kuratoriums Peter Scholz (Freie Universität Berlin / Amtsgericht Charlottenburg), den Dissertationspreis dieser wissenschaftlichen Vereinigung an den Preisträger Serdar Kurnaz (Universität Hamburg). Kurnaz hielt einen Vortrag, in dem er sich mit “The Theory of Bayan and its Relation to the Methods of Deriving Norms (istinbāṭ al-aḥkām)” from Qur’an and Sunna in Islamic Legal Thinking befasste. Es ging dabei um eines der frühesten methodischen Probleme in der Entwicklung des Islam: die Frage, wie man die Bedeutung der maßgeblichen Texte des Qur'ān und der Sunna entschlüsseln könne. Dieses Problem habe zur Entwicklung des Systems von bayān geführt, einer Sammlung von Äußerungen des Gesetzgebers darüber, was erlaubt und was verboten sei. Serdar Kurnaz analysierte mit dem System von bayān die impliziten Bedeutungen und den Prozess der Ableitung von Verhaltensnormen in der Zeit zwischen dem vierten und zehnten Jahrhundert sowie deren epistemologische Voraussetzungen. Es ging ihm dabei um die Frage, ob das System von bayān gültige Regeln hervorbringe oder ob es stattdessen die Wissenschaftler selbst seien, die die Regeln entwickelt hätten.

Im vierten Panel unter dem Vorsitz von Kai Kreutzberger (Auswärtiges Amt in Berlin) hielt Martin Bünning (Ashurst LLP, Frankfurt) einen Vortrag über „The Sachsen-Anhalt Ṣukūk and Real Estate Acquisitions of ‘Islamic’ Investors“. Er erläuterte, wie 2004 in Sachsen-Anhalt erstmalig eine Anleihe nach islamischen Grundsätzen eingeführt worden sei. Diese rechtliche Regelung habe die Bezeichnung „Sachsen-Anhalt-Ṣukūk“ und richte sich an Investoren aus dem Mittleren Osten und der Golfregion. Dieses von einer US-amerikanischen Bank gesponserte und von einem Sharia Board unterstützte Finanzinstrument sei konzipiert worden, um eine Lücke im bestehenden rechtlichen und steuerlichen System im Hinblick auf das wachsende Interesse von Investoren aus dem Nahen Osten am deutschen Immobilienmarkt zu schließen.

Auf dem fünften Panel, das von Federica Sona (MPI) moderiert wurde, eröffnete Baudouin Dupret (Centre National de la Recherche Scientifique, Paris / Université Catholique de Louvain) den zweiten Tag mit einem Beitrag mit dem Titel „Filling Gaps in Legislation: The Use of Fikh by Contemporary Courts (Morocco, Egypt, and Indonesia)“. Er beschäftigte sich mit Methoden, die gegenwärtig in drei unterschiedlichen Ländern von Richtern angewandt würden, um Entscheidungen in Familienrechtsfällen herbeizuführen und wie diese Methoden die Rechtsauffassung und das Recht selbst grundlegend verändert hätten. In muslimischen Ländern würden heute kodifizierte Familiengesetze gelten. Bedeute das aber gleichzeitig, dass es sich dabei um kodifizierte Versionen des klassischen islamischen Rechts handelt? Dupret zeigte, dass Richter in Marokko, Ägypten und Indonesien Wege finden müssten, um das zu ergänzen, was Juristen als „Schweigen des Gesetzes“ bezeichnen, um damit die vom Gesetzgeber hinterlassenen Lücken zu schließen. Dies erreiche man dadurch, indem traditionelle islamische Rechtsbezüge „geschluckt und verdaut“ und dann in positives Recht übersetzt werden würden. In dem Vortrag wurden die juristische Interpretationsarbeit und die gerichtliche Ermessensfreiheit als Mittel zur Bewältigung von Gesetzeslücken dargelegt. Die Art und Weise, wie die Richter über das Gesetz denken würden, spiegele die Muster des kodifizierten staatlichen Rechts wider. Deshalb, so Dupret, würden die Richter neue Interpretationstechniken und Argumentationsmethoden, wie beispielsweise das Prinzip von iǧtihād, entwickeln, um mit fiqh-Referenzen umgehen zu können. Juristische Ausbildung und Techniken würden es ermöglichen, die richtige rechtliche Formel als verbindliche Vorlagen einzuführen. Während sich die Richter früher auf die inoffizielle Kodifizierung von ḥanafītischem fiqh zur Begründung ihrer Argumentation berufen hätten, sei heute die Bezugnahme auf die effizienteren und flexibleren Formeln der Vorlagen maßgeblich. Die Entwicklung dieser neuen Techniken habe auch zur Digitalisierung der Justizarbeit und zur Harmonisierung der Justizressourcen geführt. „Bedeutet das, dass dies kein islamisches Recht mehr ist?“, fragte Dupret abschließend. Das islamische Recht sei nicht das, was Wissenschaftler dafür halten, sondern das, was die Justiz daraus mache. Bei „so viel juristischer Modernität“ gehe es um Routine und Bürokratie, und diese Tatsachen seien bestimmend für das praktizierte Recht. Folglich sei es besser zu fragen, was die Akteure denken und was sie tun, als zu fragen, ob es sich um wahres islamisches Rechts handele.

Anschließend wurde mit dem Vortrag von Dörthe Engelckes (Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg) zu „Adjudicating Christian Family Law in Jordan: Legal Borrowing Across Religious Lines?“ fortgesetzt. Ausgehend von der Frage, welche Formen die Rechtsprechung und die rechtliche Entscheidungsfindung haben, forschte Engelcke zu den Systemen christlichen Familienrechts in Ländern mit mehrheitlich muslimisch geprägter Bevölkerung. Verschiedene christliche Gemeinden betrieben dort ihre eigenen Gerichte und wendeten ihr eigenes Familienrecht an. Basierend auf umfangreichen Feldstudien, die sie im September 2016 und zwischen März und Mai 2018 in Jordanien durchgeführt hatte, stellte Engelcke dar, wie die Rechtskultur von Minderheiten – hier die griechisch-orthodoxen Gerichte – im Rahmen eines rechtlichen Pluralismus ausgestaltet sei. Ihre Studie zeige, dass das christliche Familienrecht mehr oder weniger durch das muslimische Familienrecht geprägt ist. Die Richter der griechisch-orthodoxen Gerichte hätten viele Regelungen des muslimischen Familienrechts übernommen, wenn auch ohne konkrete Bezugnahme auf das islamische Recht. So gelte der Vater als walī (Vormund) seiner Kinder und genieße bestimmte Vorrechte. Christliche Gerichte setzten ebenso wie šarīʿa-Gerichte Regelungen wie bait at-ṭāʿa (Haus des Gehorsams) durch und könnten unter bestimmten Umständen verhindern, dass Ehefrauen alleine reisten. Christliche Gerichte würden zudem auch auf qiyās (rechtliche Analogie) verweisen und für sich in Anspruch nehmen, dass sie sich an iǧtihād (selbstständige Auslegung) beteiligen. Aber es gebe auch eine Reihe von Unterschieden: Die Ehe gelte in der untersuchten christlichen Lehre als Sakrament und eine Scheidung sei daher wesentlich schwieriger als vor den šarīʿa-Gerichten. Abschließend zeigte der Vortrag auf, dass die griechisch-orthodoxe Gerichtsbarkeit in Jordanien fest in der lokalen Rechtskultur verwurzelt und nicht etwa als ein völlig eigenes System zu verstehen sei.

Das sechste Panel, moderiert von Jörn Thielmann (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg), wurde mit einem Beitrag von Reik Kirchhof (Berlin) über „Disintegration Within Integration – The Impossibility of Islamic Law: Realigning Field Observations of Islamic Normativity With New Theoretical Concepts of Normative Orders and Law“ eröffnet. Kirchhof  stellte die theoretischen Grundlagen empirischer Islamforschung und die (Un-)Möglichkeit des islamischen Rechts als Forschungsobjekt dar. In seiner Forschung gehe er davon aus, dass die Entstehung des islamischen Rechts und seine Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt bisher kaum beachtet worden seien. Er beschrieb, wie islamische Normativität sowohl von muslimischen als auch von nicht-muslimischen Akteur*innen, die sich auf islamische Texte berufen, geprägt sei, um die Legalität oder Illegalität bestimmter sozialer Handlungen festzustellen. Er vertrat die Ansicht, dass die šarīʿa zur Zeit des Propheten nicht als solche existiert habe, sondern dass sie erst später von muslimischen Gelehrten entwickelt worden sei. Der Prophet habe demnach also keine rechtlichen Quellen, die den Erwartungen Gottes entsprochen hätten, angewandt. Nach Auffassung von Kirchhof entspreche die šarīʿa insbesondere in der Neuzeit nicht den rechtlichen Erfordernissen der muslimischen Welt. Er schlug das Konzept einer rechtsnormativen Ordnung vor, um die sozialnormativen Konstellationen zu verstehen, an denen Muslime im Laufe der Geschichte beteiligt gewesen seien. Kirchhof schloss mit dem Vorschlag, dass man sich Institutionen ansehen solle, die sich mit Fällen befassen, in denen Erwartungen nicht erfüllt worden seien: Von wessen Erwartungen würden wir sprechen – Gottes Erwartungen an den Menschen oder die Erwartungen des Menschen an sich selbst und andere? Wie sei die Qualität dieser Erwartungen? Wir könnten Ihn nicht fragen oder beobachten, ob Er enttäuscht ist. Was aber Muslim*innen über die Qualität ihrer Erwartungen dächten, das könnten wir beobachten – werden sie erfüllt oder nicht, und wie werde mit Enttäuschungen umgegangen?

Dominik Müller (MPI) beendete die zweitägige Veranstaltung mit einem Vortrag über die DFG-Emmy-Noether-Forschungsgruppe „The Bureaucratization of Islam and its Socio-Legal Dimensions in Southeast Asia“, die seit 2016 am MPI angesiedelt ist. Die Forschungsgruppe, die aus vier Doktorand*innen und Müller selbst bestehe, untersuche aus ethnologischer Sicht die Bürokratisierung des Islam in fünf asiatischen Ländern (Brunei, Indonesien, Malaysia, die Philippinen und Singapur). Ein besonderer Schwerpunkt liege dabei auf der „klassifikatorischen Macht“ des Staates und deren Funktionsweise auf der Mikroebene. Müllers Projekt ist eine vergleichende ethnologische Studie über die Bürokratisierung des Islam als soziales Phänomen und ihre Rolle bei der Ausübung der „klassifikatorischen Macht“ des Staates, die in jeder Gesellschaft auf unterschiedliche Weise reproduziert und umkämpft werde. Er vertrat die Ansicht, dass trotz der unterschiedlichen nationalen Geschichten in jedem dieser Länder staatliche Akteure versuchten, die islamischen Diskurse in ihren Territorien zu beeinflussen (und in einigen Fällen sogar völlig vorzuschreiben) und sich an der politisch gewünschten islamischen Bedeutungsproduktion beteiligen würden. Anhand von empirischen Beispielen aus seiner eigenen empirischen Forschung in Brunei und Singapur veranschaulichte Müller Familienähnlichkeiten und Unterschiede des bürokratisierten Islam in Südostasien.

Die Konferenz endete mit einer geschlossenen Sitzung der Direktorin des MPI mit den Vorständen der GAIR und RIMO, in der die erste gemeinsame Tagung ausgewertet werden sollte und um gegebenenfalls weiterführende Kooperationen ins Auge zu fassen.

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