Zeit für Blut: Patientengemeinschaften und Infrastruktur bei der Behandlung von Thalassämie in Indien

Dieses Projekt befasst sich mit den Erfahrungen von Menschen (Ärzt*innen, Pfleger*innen und Familienangehörigen), denen die Pflege von Patient*innen obliegt, die an Thalassämie und Sichelzellenanämie leiden. Die Blutkrankheiten sind vererbbar und führen zu einer Anomalie bei der Hämoglobin-Produktion. Die Krankheiten sind chronisch und können bisher nur durch eine Knochenmarktransplantation geheilt werden, die nicht nur teuer, sondern – aufgrund fehlender Spender*innen – oft auch unerreichbar ist. Nicht behandelte Patient*innen benötigen regelmäßige Bluttransfusionen, um ein "normales" Leben führen zu können. Auf der Grundlage von Feldforschungen in staatlichen und nichtstaatlichen Kliniken sowie mit Thalassämie-Patient*innengemeinschaften untersucht Samiksha, wie Individuen lernen, ihren Zustand zu managen, indem sie sich in Infrastrukturen bewegen und sich zu biologischen Substanzen – Blut, Zellen und DNA – in Beziehung setzen.
Thalassämie spielt im öffentlichen Gesundheitsdiskurs in Indien oft keine Rolle. Dieser konzentriert sich zumeist auf die Behandlung besonders verbreiteter Krankheiten wie Krebs, Herzleiden, Diabetes und Infektionskrankheiten. Dabei wird übersehen, dass Thalassämie die weltweit häufigste autosomale Krankheit ist und Inder*innen besonders oft von ihr betroffen sind. Thalassämie ist zudem eine der wenigen Einzelgen-Erkrankungen, die erfolgreich im menschlichen Genom kartographiert und, als ein Fall von "Hämoglobinopathie", umfassend untersucht wurde. Sie wird weltweit, sowohl in Ländern mit hohem als auch mit niedrigem Einkommen, medizinisch behandelt. Auch wenn Patient*innen immer wieder Stigmatisierung erfahren, so fordern sie doch auch mehr staatliche Hilfe und Anerkennung ihrer Leiden durch das Gesundheitswesen.
Das Projekt findet vor dem Hintergrund jüngster Fortschritte in den Bereichen Biomedizin und Molekulargenetik statt und eruiert ihre Bedeutung für die gelebten Erfahrungen von Thalassämie-Patient*innen und ihren Familien. Wie verändern sich Familiendynamiken, wenn neue globale Netzwerke Gen-Tests ermöglichen, neue chirurgische Verfahren zur Verfügung stehen, und Familien neue Finanzierungsmodelle für die kostspielige Behandlung angeboten werden?
Die Anregungen einer phänomenologischen Anthropologie aufnehmend, analysiert das Projekt die körperliche Erfahrung von Patient*innen, und wie diese durch neues Wissen über Thalassämie beeinflusst wird. Welche Rolle spielen politische, ethische und ökonomische Bedeutungen von Objekten, die das Phänomen Thalassämie ausmachen, für die Selbstwahrnehmung? Wann treten Menschen als Patient*innen und wann als Bürger*innen in Erscheinung? Wie beeinflusst staatliche Investition in Präventivkontrolle die Beziehungen zwischen Laborwissenschaft, Gesundheitspolitik und Krankheitsidentitäten in Indien? Das Projekt knüpft an Debatten aus den Science and Technology Studies an und untersucht im Rahmen der Medizinethnologie den Einfluss von Genwissenschaften für soziale Identitäten. Es zeigt, wie Patient*innen mit genetischen Krankheiten über Verwandtschaft, Alltagspolitik und Bioökonomie nachdenken und leistet damit auch einen Beitrag zur Erforschung der sozialen Relevanz von medizinischer Genetik in Indien.

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