Wildnis in Bearbeitung: Experimente mit Rewilding im europäischen Naturschutz

Dieses Forschungsprojekt befasst sich mit dem Versuch, europäische Kulturlandschaften durch das Naturschutzkonzept des Rewilding gezielt verwildern zu lassen: Welche neuen Formen und Bedeutungen nimmt Wildnis auf einem dicht besiedelten Kontinent an, wo nahezu alle Ökosysteme menschengemacht sind? Wie sollen „wilde“ Orte durch gezielte Eingriffe (wieder)hergestellt, verwaltet und erhalten werden? Und was passiert, wenn das eigene Zuhause plötzlich von Wölfen und Wisenten bevölkert wird? Rewilding will „die Natur für sich selbst Sorge tragen“ lassen. Dies soll vor allem durch die Wiedereinführung von großen Säugetieren geschehen, die Ökosysteme durch ihr Jagd- oder Weideverhalten so umformen können, dass sie auch für zahlreiche andere Lebewesen wieder bewohnbarer werden. Solche Prozesse sind zwar relativ unvorhersehbar, werden aber immer häufiger als effektive und kostengünstige Alternativen zu herkömmlichen Naturschutzkonzepten angestoßen. Durch mobile Ethnographie verfolgt dieses Projekt europaweite Verbindungen zwischen Forschungsinstituten und Gebieten, in denen Rewilding erprobt und angewandt wird (etwa im Apennin oder im Oderdelta). So soll dokumentiert werden, wie sich verschiedene Beteiligte – etwa in der Forschung, in der Landwirtschaft, im Ehrenamt oder als Geschäftsmodel – mit der neu entstehenden Wildnis auseinandersetzen.
Durch ethnographische Feldforschung sollen zunächst Forschende bei dem Entwurf von Rewildingkonzepten begleitet werden. Anders als in vielen konventionelleren Naturschutzansätzen geht es dabei nicht darum, ökologische Prozesse nach strikten Vorgaben zu regulieren, sondern darum, deren Selbstgestaltung zu ermöglichen. Dieser Ansatz führt oft zu überraschenden Ergebnissen: Neue Spezies tauchen auf, andere verschwinden, und ganze Landstriche ähneln plötzlich nicht mehr dem gewohnten Kulturland. In einem zweiten Schritt soll daher untersucht werden, wie verschiedene Beteiligte mit diesen Veränderungen in ihrer Umwelt umgehen. In der Öffentlichkeit wird häufig hervorgehoben, dass etwa Landwirt_innen oder Jäger_innen Rewilding-Ansätze zumeist als autoritäre Eingriffe ansehen. Andererseits arbeiten auch viele Menschen mit Rewilding-Organisationen zusammen oder eignen sich die Idee sogar selbst an, etwa in der ökologischen Landwirtschaft oder im nachhaltigen Tourismus. Neue Formen der europäischen Wildnis werden also nicht nur durch nichtmenschliche Lebewesen gestaltet, sondern auch durch die kreativen Reaktionen ihrer menschlichen Nachbarn. Dahin gehend erforscht dieses Projekt das Spannungsfeld zwischen Naturschutz als biopolitisches Projekt – das darauf abzielt, Lebewesen zu regulieren sowie bestimmte Formen von environmental citizenship zu etablieren –, aber auch als dynamischen Prozess, in dem neue Formen der Für-Sorge für gefährdete Ökosysteme entstehen können.
Dieses Forschungsprojekt ist an der Schnittstelle zwischen den environmental humanities und der interdisziplinären Naturschutzforschung angesiedelt. Im Blickpunkt stehen Veränderungen in der europäischen Umweltpolitik ebenso wie breitere Reaktionen auf das Anthropozän. In Bezug auf die zentralen Fragen des Departments „Anthropology of Politics and Governance“ soll erforscht werden, wie neue Formen der Kontrolle über andere Spezies eine Politik der ökologischen Für-Sorge erproben. Als Teil der Arbeitsgruppe „science and universality“ soll zudem untersucht werden, wie wissenschaftliche Prozesse von der Vorstellung einer „flexiblen“ oder „kreativen“ Natur inspiriert werden.

 

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