Mehr als Chaos und Krise: Somalia im Umbruch
Somalia gilt in der öffentlichen Wahrnehmung als hoffnungsloser Fall, als Failed State, in dem nichts funktioniert, der keine Zukunft hat und der den internationalen Frieden bedroht. Tatsächlich gibt es aber kaum wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über die gegenwärtige Lage im Land. Denn nahezu alle verfügbaren Daten stammen aus den 1960er–1980er Jahren. Die Konferenz “Continuity and change in Somali society, politics, and economy in the longue durée”, die vom 20. bis 22. Juni am MPI für ethnologische Forschung stattfindet, will deshalb auf der Basis aktueller sozialwissenschaftlicher Forschung ein differenzierteres Bild der Lage in Somalia zeichnen. Die Tagungssprache ist Englisch.
Differenzierte Wahrnehmung durch empirische Forschung
Seit drei Jahrzehnten produziert Somalia negative Schlagzeilen: Staatszerfall, Bürgerkrieg, Kriegsherrenwesen, Hunger, Piraterie, Terrorismus. Die internationale Staatengemeinschaft reagiert darauf meist mit militärischen Interventionen. Eine zivile Perspektive scheint es für das ostafrikanische Land nicht zu geben. „Dieses negative Bild von Somalia ist viel zu einseitig und deshalb falsch“, sagt Dr. Markus Höhne, Mitorganisator der Konferenz “Continuity and change in Somali society, politics, and economy in the longue durée” und Forschungspartner der Abteilung „Integration und Konflikt“ am MPI. „Gegenwärtig lässt sich in Somalia ein rasanter gesellschaftlicher Wandel beobachten, über den es kaum empirische Erkenntnisse gibt. Deshalb werden wir uns auf der Konferenz mit sozialen Phänomenen wie der Geschlechterfrage, Familienbeziehungen, dem Wirtschafts- und Bildungssystem und religiösen Praktiken beschäftigen. Wir wollen auf diesem Weg Somalia in den sozialwissenschaftlichen Diskurs zurückholen, um der undifferenzierten und oberflächlichen Wahrnehmung etwas entgegenzusetzen.“
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Gesellschaftliche Teilhabe durch Bildung
Tatsächlich hält das Somalia der Gegenwart viele Überraschungen bereit: Bis 1991 gab es beispielsweise nur eine Universität im ganzen Land. Inzwischen sind es über 50. Und 40 Prozent der Absolventen sind Frauen. „Diese immense Expansion des Bildungssystems eröffnet für Frauen ganz neue Chancen am wirtschaftlichen und politischen Leben teilzunehmen“, sagt Höhne. Gut ausgebildete Frauen können auch deshalb Positionen einnehmen, die früher ausschließlich Männern vorbehalten waren, weil es zu wenig Männer gibt. Viele sind in den jahrelangen militärischen Konflikten ums Leben gekommen, verletzt worden oder geflohen. Frauen sind oft allein zurückgeblieben und kümmern sich neben der Familie auch zunehmend um die Gemeinschaft auf Dorf- oder Stadtebene.
Neue Glaubensrichtungen verdrängen Tradition
Einen ähnlich fundamentalen Wandel wie das Bildungssystem und die Geschlechterbeziehungen durchläuft der Islam in Somalia. Der traditionelle Sufismus, der bis in die 1980er Jahre für fast alle Somalier spirituelle Heimat war, verschwindet immer mehr. Höhne: „Viele Sufi-Schreine in Somalia sind inzwischen verwaist. Der breite Zugang zu Schulbildung und zum Internet hat die Diversifizierung religiöser Orientierung stark begünstigt. Heute sind verschiedene Formen des wahabistischen Islams verbreitet. In der wissenschaftlichen Literatur wird aber nach wie vor behauptet, dass die Mehrheit der Somalier Anhänger des Sufismus sind. Und das stimmt schon lange nicht mehr.“ Zudem vertreten die neueren islamischen Gruppen, selbst wenn sie wahabistisch orientiert sind, ganz unterschiedliche Positionen. Deshalb helfen Schlagwörter wie „Fundamentalismus“ oder „Terrorismus“ bei der Analyse nicht weiter.
Neue Lebenschancen durch Transformation
Die hohe Konzentration von Menschen und Kapital in den Städten – Somalia hat seit den 1990er Jahren eine der höchste Urbanisierungsraten in ganz Afrika – führt zu einem grundlegenden Wandel traditioneller Lebensformen. „In Somalia passieren im Augenblick sehr viele Dinge gleichzeitig und sie passieren sehr schnell. In solchen Umbruchsituationen entstehen immer auch neue Lebenschancen. Deshalb lohnt es sich, die Transformationsprozesse genau zu beobachten und die vielen Facetten der somalischen Gesellschaft möglichst präzise zu beschreiben“, erklärt Höhne. So hat beispielsweise das weitgehend unregulierte staatsferne somalische Wirtschaftssystem höchst erfolgreiche Produkte und Dienstleistungen hervorgebracht. Höhne: „Somalische Telekommunikationsunternehmen bieten ein sehr weit verbreitetes bargeldloses Bezahlsystem an, das jeder nutzen kann, der ein Mobiltelefon besitzt. Dieser wirtschaftliche Sektor boomt und schafft Arbeitsplätze. Andererseits ist Somalia nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt, in dem viele Menschen am Existenzminimum leben. Somalia ist eben ein Land im Um- und Aufbruch und nicht nur ein Katastrophenland ohne Hoffnung.“
Erforschung des globalen sozialen Wandels
Das Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung ist eines der weltweit führenden Forschungszentren auf dem Gebiet der Ethnologie (Sozialanthropologie). Es hat seine Arbeit 1999 mit den Gründungsdirektoren Prof. Dr. Chris Hann und Prof. Dr. Günther Schlee aufgenommen und 2001 seinen ständigen Sitz im Advokatenweg 36 bezogen. Mit Ernennung der Direktorin Prof. Dr. Marie-Claire Foblets im Jahre 2012 wurde das Institut um eine Abteilung zum Themenfeld ‚Recht & Ethnologie‘ erweitert. Forschungsleitend ist die vergleichende Untersuchung gegenwärtiger sozialer Wandlungsprozesse. Besonders auf diesem Gebiet leisten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Institutes einen wichtigen Beitrag zur ethnologischen Theoriebildung. Sie befassen sich darüber hinaus in ihren Projekten oft auch mit Fragestellungen und Themen, die im Mittelpunkt aktueller politischer Debatten stehen. Am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung arbeiten gegenwärtig 175 Wissenschaftler aus über 30 Nationen. Darüber hinaus bietet das Institut zahlreichen Gastwissenschaftlern Raum und Gelegenheit zum wissenschaftlichen Austausch.
Zum Programm der Tagung
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Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung
Abteilung ‘Integration und Konflikt’
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Dr. Markus Höhne
Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung
Abteilung ‘Integration und Konflikt’
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