Die historische Sozialgruppen-Analyse (HSG-Analyse)

Der Klassentheorie nach gehört (fast) jeder Mensch einer Klasse an: etwa der Arbeiter einer unteren Klasse, der Fabrikbesitzer eine oberen, der Tischlermeister einer mittleren. Klassenzugehörigkeit ist also erst einmal nur eine Art Merkmal, das in der Theorie festgelegt wurde. Wenn Historiker jedoch von einer sozialen Klassengesellschaft sprechen, dann meinen sie: Menschen, die dasselbe Klassenmerkmal teilen, gehen auch in der Wirklichkeit vor allem mit ihresgleichen soziale Beziehungen ein, bilden die sogenannten „sozialen Klassen“. Bisher wurde auf diese Gruppenbildung meistens nur von einer oder wenigen Beziehungsarten geschlossen, etwa vom Heiratsverhalten oder vom Vereinsbesuch. Menschen gehen jedoch vielfältigere Beziehungen miteinander ein: In den Archiven geben uns verschiedene Typen von Personenverzeichnissen Auskunft darüber. Hier gilt es, sie möglichst alle zu berücksichtigen und miteinander in Bezug zu setzen. Nur dann kann man tatsächlich feststellen, ob die Menschen soziale Klassen bildeten.

Beziehungen nach ihrer Stärke ordnen

Das leistet die historische Sozialgruppen-Analyse (HSG-Analyse). Sie ordnet die verschiedenen Beziehungsarten, die wir aus den Personenverzeichnissen rekonstruieren können, in eine Hierarchie, und zwar nach ihrer Stärke. Dahinter steht die Erkenntnis aus der sozialen Netzwerktforschung, dass Beziehungen verschieden stark sind: Eheleute haben im Schnitt eine stärkere Beziehung zueinander als die Mitglieder eines Vereins, und die haben wiederum eine durchschnittlich stärkere Beziehung zueinander als die meisten Schulkameraden oder Nachbarn.

Für jede Klasse ein soziales Kontaktprofil

Mit solch einer Beziehungshierarchie ist es daher möglich, von jeder Klasse, die eine Theorie definiert, ein soziales Kontaktprofil zu erstellen – und daran kann man wiederum ablesen, ob und inwieweit diese Menschen auch in der Wirklichkeit innerhalb ihrer Klasse Beziehungen miteinander eingingen. Blieben sie nur bei den starken Beziehungen unter sich, deutet das auf eine sehr offene soziale Klassengesellschaft hin. Geschah dies auch bei den schwachen Beziehungsarten, kann man von einer abgeschotteten Klassengesellschaft sprechen. Wenn es jedoch gar keine Beziehungsarten gab, bei denen eine Klasse aus der Theorie unter sich blieb, kann man überhaupt nicht von einer sozialen Klassengesellschaft ausgehen.

Das Kontaktprofil der unteren Mittelklassen

Hier nun ein Beispiel für das Kontaktprofil der unteren Mittelklassen aus der Kleinstadt Delitzsch für die Zeit von 1900-1933. Es zeigt an, zu welchen Gruppen die Mitglieder der unteren Mittelklassen Kontakte eingingen, und zwar prozentual gesehen, Beziehungsart für Beziehungsart (Grundlage dieses Diagrammes ist eine abgewandelte Form des Klassifikationssystems HISCLASS[1]). Hier wählten zum Beispiel nur etwa 37 Prozent der unteren Mittelklassen Taufpaten für ihre Kinder aus ihrer eigenen Gruppe, jedoch knapp 63 Prozent Taufpaten aus anderen Klassen.


    

An diesem Beispiel kann man sehen: Die unteren Mittelklassen blieben weder unter sich, noch schotteten sie sich gegen andere Klassen ab.

Einleitung

Das Bild von der deutschen Gesellschaft

Die Delitzsch-Fallstudie



[1] Informationen zu HISCLASS siehe http://www.hisma.org/HISMA/HISCLASS.html

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