Abteilung ‚Anthropologie des wirtschaftlichen Experimentierens‘

Die heutige Weltwirtschaft ist von enormer Unsicherheit geprägt und befindet sich in einer strukturellen Sackgasse. Herausforderungen wie die Klimakrise, rasant steigende Ungleichheit und zunehmende soziale Konflikte erfordern einen fundamentalen Wandel. Doch selbst nach schweren Schocks wie der Finanzkrise 2008 und der Pandemie 2019–2022 scheinen systemische Transformationen, die mit dem New Deal oder den Entwicklungen in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg vergleichbar sind, unwahrscheinlich.

Welche Einsichten bietet die Wirtschaftsanthropologie in dieser kritischen Zeit?

Die im September 2021 gegründete Abteilung ‚Anthropologie des wirtschaftlichen Experimentierens‘ beschäftigt sich mit breiten gesellschaftlichen Vorstellungen des wirtschaftlichen Lebens; zugleich unterstützt sie mit ihrer Forschung die experimentelle Suche nach Alternativen von unten. Solange wir nicht verstehen, wie Menschen mit alltäglichen Fragen umgehen, etwa was ein „gutes Leben“ ausmacht, oder was wir als angemessen erleben, können wir keine Lösungen für die dringendsten Probleme der Gegenwart finden, sei es die Energiewende oder den demographischen Wandel. Dank des rasanten Anstiegs des Zugangs zu Bildung und neuen Kommunikationstechnologien sind mehr Menschen als je zuvor bereit, gemeinsam mit Wissenschaftler:innen einen kritischen Dialog auf der Suche nach Antworten zu führen. Mehr als je zuvor ist es sowohl möglich als auch notwendig, Engagement mit der Öffentlichkeit als wesentlichen Bestandteil unserer Arbeit und nicht bloß als Nachtrag zu herkömmlicher Forschung zu behandeln.

Gemeinsame Sorgen

Um diesem Bedarf an neuen Formen der Forschung als sozialer Praxis gerecht zu werden, entwickeln wir einen Ansatz, der gemeinsame Sorgen („common concerns“) in den Mittelpunkt stellt. Ausgehend von den Sorgen, mit denen sich die Menschen in ihrem Alltag auseinandersetzen, soll unsere Forschung Ideen liefern, die sie benutzen können, um ihre Problemlagen besser zu analysieren und darauf zu reagieren. Unsere wissenschaftliche Arbeit verstehen wir analog zu einem Handwerk: genau wie ein Tischler oder eine Tischlerin einen Stuhl zum Sitzen baut und in die Welt schickt, wollen wir Erkenntnisse gewinnen, die in der Öffentlichkeit zirkulieren und praktisch angewendet werden können. In einem englischsprachigen Interview in Cargo: Journal for Cultural and Social Anthropology erläutert Biao Xiang ausführlich die Hintergründe unseres Forschungsprogramms.

Die Abteilungsmitglieder entwickeln diesen „Common-Concerns“-Ansatz in ihren Forschungsprojekten weiter. Die Forschungen umfassen ein breites Spektrum an thematischen und geografischen Schwerpunkten:

Andrew Haxby (Makler und Moral auf dem Grundstücksmarkt Kathmandus)

Biao Xiang (Ambition und Machtlosigkeit im urbanen China)

Ceren Deniz (Zugehörigkeit, Placemaking und Migration in Deutschland)

Christoph Brumann (gemeinschaftliche und private Räume in der Stadtentwicklung Asiens)

Ferda Nur Demirci Eryat (Verschuldung und moralische Immunität in der Türkei)

Franziska Nicolaisen (Hoffnung und Desillusionierung im urbanen Vietnam)

Ikuno Naka (Liquidität und die städtische Lösung in Indien)

Jagat Sohail (Antrieb und Verzicht unter indischen Ausgewanderten)

Jeremy Rayner (Engagement und kollektives Handeln in Ecuador)

Max Fuchs (queere Praktiken der Vergemeinschaftung im urbanen Namibia)

Siqi Tu (Exil als Zustand in der neuen chinesischen Diaspora)

Xenia Cherkaev (ethische Governance und verwilderte Straßenhunde)

Ya Lu (die ‚Nähe‘ und Szenarien der Urbanität in China)

Zhipeng Duan (das Konzept der ‚Nähe‘, Ressourcen für kritisches Denken und Handeln)

Ehemalige Abteilungsmitglieder:

Iain Walker (kleine Inseln, soziale Identität und politische Prozesse)

Jingjing Liu

Kirsten W. Endres (infrastrukturelle Gewalt im kolonialen Vietnam)

Mario Schmidt (Druck und Männlichkeit in Kenia)

Samuel Williams

Wanjing Chen (Brutalität unter chinesischen Unternehmer-Migranten in Laos)

Unsere kollaborative Forschung lässt sich in drei Themenkomplexe gliedern:

Mobilität

Wir untersuchen Mobilität als Schlüsselelement, durch das sozioökonomische Beziehungen neugeordnet werden.

Soziale Reparatur

Wir verfolgen die experimentellen Bemühungen von Bürger:innen, ihre sozialen Beziehungen im Alltagsleben zu reparieren.

Repositionierung
des globalen Denkens

Wir definieren globale Fragen neu, indem wir die Sorgen und das gesellschaftliche Experimentieren im Globalen Süden als intellektuelle Ressourcen nutzen.


Die Abteilung ist kooperiert mit folgenden Forschungsgruppen:

Wissenschaftler:innen, deren Themen und Fragestellungen sich im Bereich der Forschungsagenda der Abteilung bewegen, sind herzlich eingeladen, einen Gastaufenthalt in der Abteilung zu verbringen. Hier finden Sie unser Bewerbungsportal.

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